zum Hauptinhalt
Antonia (Mandy Fredrich) zerlegt Hoffmanns Gliederpuppe.
© Bregenzer Festspiele/ Karl Forster

"Hoffmanns Erzählungen" bei den Bregenzer Festspielen: Ein Käfig voller Narren

Begeisterung und Sinnenrausch: Stefan Herheim inszeniert „Hoffmanns Erzählungen“ grandios-grotesk mit brillanten jungen Sängerinnen bei den Bregenzer Festspielen.

„,Hoffmanns Erzählungen’ sind für mich eine Pionier-Oper des 19. Jahrhunderts, die Alban Bergs ,Lulu’ quasi vorwegnimmt“, hatte Stefan Herheim im Vorfeld erklärt. Weil sie eine komplexe, tiefenpsychologische Analyse des Künstlertums ist. Der Kniff der Librettisten besteht darin, dass der Schriftsteller E.T.A Hoffmann in dem Stück seinen eigenen literarischen Geschöpfen begegnet.

Dass keine Fassung letzter Hand von dieser 1881, ein Jahr nach dem Tod ihres Schöpfers uraufgeführten Oper existiert, dass selbst die Herausgeber der quellenkritischen Partiturausgabe lediglich ein Konvolut von Fragmenten anbieten können, macht für Herheim „Offenbachs Vermächtnis zu einem ewigen Workshop, bei dem man mit allen Fragen des Musiktheaters – ethisch wie ästhetisch – konfrontiert wird.“

Klingt kompliziert. Funktioniert im Bregenzer Festspielhaus aber ganz formidabel. Denn Herheims Inszenierung ist überhaupt nicht verkopft, sondern maximal mitreißend, theatralisch effektvoll und auch noch herrlich anzusehen. Zu Beginn und am Ende nimmt eine Showtreppe die ganze Bühnenbreite ein. Die Damen des Chores tragen Frack, die Herren Strapse – und ein betrunkener Transvestit in Paillettenrobe stürzt die Stufen herab. Damit sind die Kostüme für die folgenden fünf Akte vorgegeben: Jeder wird mal jedes der drei Outfits tragen. Denn jeder ist hier ein Künstlertyp.

Eine Messe der schwarzen Romantik

Und was wollen Künstler? Sich verwandeln, sich verkleiden, in andere Rollen schlüpfen, fremde Gedankengänge erforschen, als Mann eine Frau sein und umgekehrt, als Schüchterner zum Draufgänger werden, als Verklemmter zur Sexbombe. Schöpferisch kann der Künstler nur dann sein, solange er seinen Sehnsüchten hinterherjagt. Darum wird Hoffmann bei Offenbach sowohl von seiner Muse wie von seinem Dämon Lindorf daran gehindert, Erfüllung in der Liebe zu finden. Wie Ich, Es und Über-Ich stehen die drei Figuren zueinander, als Facetten derselben Persönlichkeit. Wo aber das Glück keine Option ist, bleibt nur die Jagd nach der Lust, nach der Triebbefriedigung auf dem lebenslangen Egotrip des Künstlers.

Was auf dem Papier deprimierend klingt, wird live zum grandios-grotesken Spektakel, zu einer Messe der Schwarzen Romantik, einem wilden Sinnenrausch. Weil es Stefan Herheim gelingt, alle Beteiligten förmlich zu verhexen, derart für seine Vision zu begeistern, dass sie über sich hinauswachsen, wie elektrisiert singen und spielen.

Altmodisches Zaubertheater mit moderner Technik

Was der Prager Philharmonische Chor an szenischer Action zeigt, erlebt man sonst nur an der Komischen Oper, und selbst ein gestandener Star wie Michael Volle stürzt sich furchtlos in jeden Fummel, taucht als blondmähnige Walküre im Silberkleid aus der Versenkung auf, trägt die Reizwäsche mit Würde, schleudert aber auch als falscher Zuschauer von der 2. Parkettreihe aus Wutkommentare in den Saal, kurz, glänzt in allen Bösewicht-Rollen mit maximalem Engagement. Dazu lassen die Wiener Symphoniker unter Johannes Debus Offenbachs Melodien leuchten, sorgen mit französischem Charme dafür, dass auch die wüstesten optischen Exzesse oben auf der Bühne nie ihre spielerische Leichtigkeit verlieren.

Was genau in den dreieinhalb Stunden passiert, ist gar nicht so leicht wiederzugeben. Die automatische Sängerin Olympia beispielsweise ist hier deutlich lebendiger als gewohnt, und am Ende wird nicht sie zerstört, sondern eine Schaufensterpuppe mit dem Gesicht Hoffmanns. Im nächsten Akt setzt dann Antonia, die Olympia aufs Haar gleicht, Kopf, Rumpf und Gliedmaße des Titelhelden wieder zusammen. Gewisse Requisiten tauchen szenenübergreifend auf, in Christoph Hetzers Bühnenbild reißen ständig Treppen auseinander, geben den Blick frei auf Kellergewölbe, Ballsäle, venezianische Kanäle. Gesteigert wird die fantastische Wirkung durch traumhaft-verspielte Videosequenzen der Firma Fettfilm, die auf ein bewegliches Deckensegel projiziert werden. Alles fordert Herheim der modernen Technik ab, um altmodisches Zaubertheater zu machen, ein Panoptikum von skurrilen Charakteren vorzuführen, die Esther Bialas im Stil der Offenbachzeit eingekleidet hat und die doch heutig wirken, den Zuschauer etwas angehen – ach, was: anspringen.

Unersättliche Lebensgier

Brillante junge Sängerinnen stürzen sich in diesen Herheim-Taumel, Kerstin Avemo als Olympia, Mandy Fredrich als Antonia und Rachel Frenkel als Muse (und alle drei gemeinsam als Giulietta), Christophe Mortagne geistert als spirreliger Offenbach-Wiedergänger durch die Akte, und mit Daniel Johannson hat der Regisseur seinen idealen Hoffmann gefunden: jung und kraftstrotzend, ein Lebensgieriger, ein Abenteurer der Kunst, der sich in jeden Abgrund stürzt, unersättlich in jeder Beziehung.

Am Schluss lässt der Regisseur, wie man das von Shakespeare kennt oder aus Mozarts „Figaro“, alle Beteiligten an die Rampe treten, um die Moral von der Geschicht’ zu verkünden. So eine „Apotheose“ hatte Offenbach tatsächlich als Finale in Betracht gezogen. „Groß ist man durch die Liebe“, intoniert die Truppe feierlich, „doch größer noch durch die Schmerzen.“ Für Künstlerseelen mag das die Wahrheit sein.

Wieder am 26. und 30. Juli sowie am 3. und 6. August. Weitere Infos unter: www.bregenzerfestspiele.com

Mehr zum Festspielsommer lesen Sie hier

Zur Startseite