"Turandot" bei den Bregenzer Festspielen: Die Mauer bricht weg
Chinakracher: Bei den Bregenzer Festspielen inszeniert Marco Arturo Marelli Puccinis Klassiker "Turandot" mit chinesischer Mauer und Terrakotta-Armee.
Das ist gerade noch mal gutgegangen. Immer wieder kommen bei der „Turandot“-Premiere ein paar Tropfen runter, immer wieder denken die 6900 Zuschauer auf der Bregenzer Tribüne, „Jetzt geht’s aber los!“, immer wieder mischt sich das hundertfache Knistern von hastig übergestreiften Regenhäuten mit Puccinis exotisch schillernder Musik. Doch der große Guss bleibt aus.
Seicht schwappt das Wasser gegen die 119 Holzpfähle, auf denen die Bühne ruht, magisch leuchten aus der Ferne die Lichter von der deutschen Seeseite herüber, die Luft ist mild. Meteorologische Rahmenbedingungen also, die perfekt zu Marco Arturo Marellis Inszenierung passen: An kleinen Nervenkitzlern mangelt es dieser „Turandot“ nicht, insgesamt aber bleibt es ein wohltemperierter Abend.
Gute Sommerunterhaltung, Oper für die Massen. Und der Titel zieht, obwohl Puccinis opus ultimum das anspruchsvollste Werk des Komponisten ist. Wie bei Verdis „Nabucco“ liegt es an einem einzigen populären Reißer, „Nessun dorma“, der Tenorarie, die durch die Fußball-WM in Italien und später durch Paul Potts Millionen eher kulturfernen Hörern zu Ohren gekommen ist. 90 Prozent der Tickets haben sich bereits verkauft, das sind 160 000 Eintrittskarten.
Angenehmer Start für Intendantin Elisabeth Sobotka
Ein angenehmer Start für die neue Intendantin Elisabeth Sobotka. Nach Karrierestationen als Operndirektorin der Berliner Staatsoper und Intendantin in Graz ist die Stimmspezialistin seit dieser Saison die erste Frau an der Spitze der Bregenzer Festspiele. Damit stehen alle drei Mega-Musiktheater-Freiluftbühnen in Österreich nun unter weiblicher Leitung. Neben Sobotka in Bregenz Dagmar Schellenberger in Mörbisch und Maren Hofmeister in St. Margarethen. Mit einem Budget von 20 Millionen Euro werden dabei in Bregenz die größten Summen bewegt.
Nur gut ein Viertel des Etats machen die staatlichen Subventionen aus, das einnahmeträchtige, jeweils zwei Sommer lang gezeigte „Spiel auf dem See“ muss die weiteren Aktivitäten mitfinanzieren, eine Neuinszenierung im Festspielhaus, eine zeitgenössische Produktion auf der Werkstattbühne, die Sinfoniekonzerte und Educationprogramme sowie das neu geschaffene Opernstudio, bei dem junge Solisten aus dem Stipendiatenprogramm der Berliner Staatsoper gerade Mozarts „Così fan tutte“ proben.
Die Freiluftproduktion steht unter Erfolgsdruck
Die Freiluftproduktion steht also unter enormem Erfolgsdruck. Marco Arturo Marelli liefert denn auch einen veritablen Chinakracher: Nichts weniger als die zweitberühmteste Mauer der Welt bildet die Kulisse für seine „Turandot“. Linkerhand taucht die Chinesische Mauser aus dem Wasser auf, macht einen kühnen Schwung in der Bühnenmitte und steigt dann steil an, bis auf 27 Meter Höhe, gekrönt von einem Wehrturm, auf dem ein zierlicher roter Teepavillon thront. In den 650 Mauerquadern verstecken sich die 59 Lautsprecher der sensationellen Bregenzer Tonanlage, die es ermöglicht, dass der Ton bei jeder Bewegung auf der Bühne mit den Solisten mitwandert.
Schon bei den ersten, archaischen Akkorden der Orchestereinleitung bricht die Steinwand auseinander und gibt den Blick frei auf die Terrakotta-Armee des Kaisers Qin Shihuangdi. 205 Zwei-MeterKrieger, die vor Kurzem noch im Potsdamer Garten ihres Erbauers Frank Schulze lagerten und jetzt quer durchs Bühnenbild zu marschieren scheinen, direkt ins Wasser, wo die ersten bereits bis zum Kopf versunken sind.
Zweieinhalb Jahre Vorbereitungszeit, 40 beteiligte Firmen, 29 000 Einzelteile, 335 Tonnen Gesamtgewicht – imposante Zahlen garantieren noch nicht dafür, dass aus dem Aufwand auch die erhoffte Ah-und-Oh-Wirkung resultiert. Doch Marelli, der wie immer in Personalunion auch als sein eigener Bühnenbildner auftritt, vermag einen echten Märchenzauber zu entfachen. Im gewundenen Verlauf der Mauer lässt sich tatsächlich ein Drache erkennen.
Mit hohem Schauwert wird im Laufe des Abends das gesamte kollektive Assoziationsfeld zum Thema Fernost durchdekliniert: Feuerkünstler und Kampfsportler sind ebenso dabei wie Fahnen- und Lampionträger.
Atemberaubend die Lichtstimmungen von Davy Cunningham und seinem Beleuchterteam, wenn sie das Mauerwerk in Magma-Rot aufglühen oder die Tonkrieger im blaugrünen Wechselspiel lebendig werden lassen. Den allergrößten Effekt aber macht jene Scheibe, die zur Rätselszene aus der zentralen Spielfläche hochklappt, zehn Meter im Durchmesser und komplett als LED-Wand nutzbar, auf der wie von Geisterhand Schriftzeichen und Masken auftauchen.
Sensibel leitet Carignani die Wiener Symphoniker durch die Partitur
Dort, wo normalerweise die Liebesszene zu finden ist, in der Mitte der Oper, hat Puccini die Konfrontation von Turandot und Calaf platziert. Die Prinzessin, die in der Ehe nichts anderes zu sehen vermag als die Unterwerfung der Frau, stellt jedem Heiratskandidaten drei verschlüsselte Fragen. Kann er sie nicht beantworten, wird er geköpft. Das Duett von Tenor und Sopran wird so zum Duell. Bei dem endlich auch die Musik atmosphärische Dichte erreicht.
Sehr sensibel leitet Paolo Carignani die Wiener Symphoniker durch die Partitur, bestrebt, alle Feinheiten, alle instrumentatorischen Raffinessen zum Funkeln zu bringen. Für die Dimensionen der Bregenzer Riesenbühne ist das allerdings zu zartfühlend. So gut die Auftritte der Minister Ping, Pang und Pong gearbeitet sind, die Marelli als Commedia-dell’Arte-Figuren stilisiert – die Massenszenen müssten mehr Aggressivität ausstrahlen, die Klangfarben könnten hier greller sein.
Erst im Zweikampf der Geschlechter entfaltet sich die volle Sogwirkung von Gesang und Orchestersound. Riccardo Massi gibt den naiv-selbstbewussten, strahlenden Helden, Mlada Khudoley eine „eisgegürtete Prinzessin“, die sich selber ein Rätsel ist und das mit menschlichen Zwischentönen auch zeigen kann. Die stärksten emotionalen Momente des Abends aber gehören Guanqun Yu als hingebungsvoll liebender Sklavin Liù.
Zum Schluss gibt's noch meterhohe Wasserfontänen
Dass Marco Arturo Marelli inszenatorisch mehr verarbeiten will, als so ein Spektakelabend verträgt, dass er in der Figur des Calaf ein Alter Ego des Komponisten entdeckt, der mit dem Älterwerden hadert und davon träumt, noch ein letztes Mal eine unsterbliche Divenfigur zu erschaffen – geschenkt. „Turandot“ ist mehr Parabel als realistische Erzählung, daher muss sich auch nicht jede Gefühlsvolte logisch erschließen. Puccini selber gelang es bis zu seinem Tod nicht, eine Lösung für das Finale zu finden, in dem die beiden kopfgesteuerten Protagonisten plötzlich den Rausch der Empfindung für sich entdecken.
Anders als im Libretto ergreift in Bregenz nicht der Tenor die Initiative für den erlösenden Kuss, sondern die Sopranistin. Was der Regisseur danach noch als Erklärungsversuch anbietet, geht allerdings unter – in einem letzten optischen Überwältigungsmoment. Statt ein chinesisches Feuerwerk abzubrennen, wie es erwartbar wäre, schießen nämlich urplötzlich Wasserfontänen hinter den Mauerzinnen hervor, meterhoch, um im Scheinwerfer-Gegenlicht vom Abendwind zu einem spinnwebfeinen Gischtvorhang verwirbelt zu werden.
Turandot wird bis zum 23. August bei den Bregenzer Festspielen gezeigt. Weitere Informationen unter: www.bregenzerfestspiele.com