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Die Schweden nennen ihn den „Poeten, den alle lieben“. Mit diesen Worten feierte die größte Tageszeitung des Landes, „Aftonbladet“, den seit einem Schlaganfall gelähmten Dichter bereits zu seinem 80. Geburtstag am 15. April.
© Peter Peitsch / peitschphoto.com

Flug in die Stille: Ein Hausbesuch bei Tomas Tranströmer in Stockholm

Der Nobelpreis für Literatur bleibt dieses Jahr in Stockholm. Die Schweden freuen sich ganz besonders über die Auszeichnung für Tranströmer. Ein Besuch bei ihm zuhause.

Die Maschine vollführt ihren Landeanflug hundert Kilometer südlich der schwedischen Hauptstadt. Der Gemeinde Nyköping als Kuckucksei ins Gras gelegt, nennt sich der Flughafen Stockholm-Skavsta und kassiert Zeit. So wird dem Gast eine Busfahrt durch das grüne, seen- und waldreiche Land beschert: 25 Jahre nach meiner ersten Begegnung mit dem schwedischen Dichter Tomas Tranströmer bin ich wieder auf dem Weg zu ihm. Damals, in Västerås, noch im Schlepptau seines slowakischen Übersetzers, habe ich diesmal ein eigenes Anliegen: für ein Heft der Reihe „Poesiealbum“ Gedichte auszuwählen.

Im Stockholmer Columbus Hotell liegt das billigste Zimmer mit Gemeinschaftsbad und ohne Fahrstuhl unterm Dach. Dafür besitzt es den Charme eines Hauses, das in seinem langen Leben seit 1780 schon alles gewesen ist, Brauerei, Kaserne, Gefängnis, Notkrankenhaus und Asyl. Ich fühle mich als willkommene Eintagsfliege, die ausschwirrt, den wieder in seinem Kindheitsstadtteil Södermalm lebenden Dichter nach zehn Jahren erneut zu besuchen. Seit einem Schlaganfall 1990 ist Tranströmer halbseitig gelähmt, wegen seiner Sprechblockade können wir auch diesmal nicht miteinander reden. Nur über Monica, seine Frau, mit der er zusammen ist, seit sie sich an einem Vorsommertag des Jahres 1957 auf Skeppsbron begegneten, der großen Uferpromenade der Altstadt. Er war 26, sie 17. Die beiden haben ein kunstvolles System von Nicken und Kopfschütteln entwickelt, das mit ausreichend Geduld sogar die Beantwortung komplizierter Fragen gestattet, wenn man sie nur in die nötige Zahl von Zustimmungen oder Verneinungen auffächert.

Mein Fußweg durch das Viertel, in dem der Sohn einer Lehrerin und eines Journalisten Kindheit und Jugend verbrachte, bis der Vater die Familie früh verließ, bringt mich unweit der Häuser in der Grinds- und Blekingagatan die Teerhofstraße entlang zu einer hölzernen Behelfstreppe. Sie führt zu der höher gelegenen Straße, an deren östlichem Ende ein strenger Klinkerbau steht. Hier, in der vorletzten Etage, haben die Tranströmers ihr Heimkehrnest gefunden. Der altmodische Scherengitterfahrstuhl öffnet sich, und Monica überbrückt mit ihrer Umarmung zehn Jahre. Während sie sich meiner Astern erbarmt, finde ich Tomas in seinem Tagessessel zwischen Büchern und Klavier.

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Da ich es versäumt habe, ihm im April zum 80. Geburtstag zu gratulieren, hole ich das jetzt linkisch nach. Der ins Schweigen Gesperrte erstrahlt über das ganze Gesicht und antwortet mit dem einzigen Satz, den er aussprechen kann: „Det är mycket bra – das ist sehr gut“. Ich Kindheitsstotterer erzähle hastig holpernd dies und das und ernte immer wieder den einen Kommentar, den wir beide brüderlich belächeln.

Mitgebracht habe ich einen Gruß des Malers Holger Barthel: die plakatgroße Reproduktion eines „Poetischen Segels“, wie es an einem der Holzmasten im Hafen von Ueckermünde leuchtet. Barthel hat ein Aquarell zu dem frühen Tranströmer-Gedicht „Sturm“ gemalt: „Plötzlich trifft der Wanderer hier die alte/ Rieseneiche, einen versteinerten Elch – /meilenweit die Krone vor der schwarzgrünen/ Festung des Meeres. // Nordsturm. Hohe Zeit, da die Ebereschen/ reifen. Im Dunkeln wach, hört man/ über dem Baum die Sternbilder stampfen / in ihren Buchten.“

Wir trinken ein Gläschen Whisky. Dann spielt Tranströmer, wie früher im verschneiten Västerås, mit seiner gesunden linken Hand auf dem Klavier: Einhandstücke, wie sie ihm Freunde aus aller Welt schicken: etwas von Branson und „Catalan“ von Mompou. „Mycket bra“, stammle ich.

Auf dem Lektüretisch neben dem Sessel stapeln sich die Bücher. Ich bin gerührt, auch meine Gedichtbände und jenes buchgewordene „Traumseminar“ („Ett drömseminarium“) vorzufinden, bei dem wir im November 2000 in Visby zwölf Tranströmer-Gedichte in sieben Sprachen übersetzten, ins Polnische, Slowakische, Russische, Lettische, Litauische, Japanische und Deutsche. Anlässlich seines runden Geburtstags sind im Bonniers Verlag zwei bibliophile Ausgaben erschienen: ein Loseblattschuber mit Malereien und noch unbekannten, frühen Gedichten und ein perlmuttfarbener Band mit den Gedichten und der autobiografischen Prosa von 1954 bis 2004. Er schenkt mir den Band und signiert ihn mit unsicherer linker Hand.

Ohne Hilfe schafft er es aus dem Tagessessel, geht schrittchenweise durch die ganze Wohnung. In der lichten Küche, auf deren Fensterbänken Orchideen in einem Schönheitswettbewerb stehen, essen wir zartes Roastbeef, trinken dunklen Wein. Dann ist der Betagte müde und ruft nach Monica: „Mycka!“

Schweden ist ein teures Land. Doch nährt es seine Dichter dank eines ausgeklügelten Stipendiensystems, welches Autoren von Rang eine nahezu sorgenfreie Existenz ermöglicht. Tomas Tranströmer, 1931 geboren, hat sich darauf nicht verlassen, sondern seit Ende seines Studiums Mitte der fünfziger Jahre bis zu seinem Schlaganfall seinen gelernten Beruf als Psychologe ausgeübt. Erst an der Universität, dann in einer Jugendstrafanstalt und seit 1965 als Berufsberater, halbtags, um Kraft und Zeit fürs Schreiben zu behalten. Dass ihm die Brotarbeit nicht nur Butter brachte, zeigen die Haikus, wie er sie schon 1959 nach einem Besuch im Jugendgefängnis Hällby schrieb. „Als der Ausreißer gefasst wurde/ hatte er die Taschen/ Voller Pfifferlinge“, geht das eine. Und: „Der Junge trinkt Milch/ und schläft geborgen in seiner Zelle,/ eine Mutter aus Stein.“

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Am nächsten Morgen mache ich mich auf den Weg, um das Schiff zu erreichen, das mich durch die Schären, diesen grandiosen Archipel kleiner und kleinster bewaldeter Felsen, Richtung Runmarö bringen soll, zu dem gelobten Eiland, dessen kindheitsher leuchtende Schönheit aus vielen Gedichten Tranströmers spricht. Denn hier, im Haus des Großvaters, verbringt er seine Sommer. Am Steg von Gatan gehe ich als Einziger von Bord. Auf der Suche nach dem kleinen blauen Holzhaus kreuze und quere ich hangauf und finde keinen Menschen. Die Spätsommerstille leuchtet vogelbeerenrot und mittagsblau und nickt auf meine Fragen mit Fichtenzapfen. Nicht mit Blick aufs Meer, das den Steg beleckt, steht das Großvaterhaus, sondern seitlich des sandigen Wegs, waldverschluckt, mit einer Lichtung und weißen Tischen, über denen Zweige junger Äpfel hängen. Im Inneren ein kleines Elektroklavier, ein über der Tür aufgehängtes urtümliches Gewehr und der Treppenlift, der den Hausherrn in den Schlafraum hievt.

In der Küche hängt ein Bleistiftporträt des Großvaters Carl Helmer Westerberg; er blickt mir nach, als ich das Refugium verlasse, in dem bis vor kurzem Tranströmers zu Jugendzeiten angelegte Insektensammlung gehütet wurde. Nun wurde seine Kollektion vom Naturhistorischen Reichsmuseum ausgestellt. Gast wollte ich sein und werde Pilger, strebe südlich der Anlegestelle ins herbstkalte Wasser. Nach einer langen Schwimmweile, ohne Begegnung mit Mensch oder Tier, blickt mich wenige Meter waldeinwärts auf einmal ein äsender Rehbock an: Mein aus den sanften Wellen ragendes, unbewehrtes Neptunhaupt ängstigt ihn nicht.

Am Vorabend meiner Abreise bin ich nochmals in der Stigbergsgatan zu Gast, deren Felsenbalkonen die Altstadtinsel und das nordöstliche Stockholm zu Füßen liegen. Ich erzähle von meinen Abenteuern und Pilzfunden auf Runmarö. Mit Monica bespreche ich die nun geerdete Gedichtauswahl. Wir finden eine strichsichere Porträtzeichnung, die der rumänische Dichter Marin Sorescu, im Wettstreit mit Günter Grass, 1988 am Rande eines Festivals gefertigt hatte. Über Preise, außer für Flugtickets und Hotels, verlieren wir kein Wort, auch nicht über den Nobelpreis für seine wurzeltiefe, bildkühne wie rätselreiche, immer menschliche Poesie und für ein tapferes, die leibliche Malaise täglich besiegendes Dichterleben.

Wohl kein anderer schwedischer Dichter versteht es wie er, das Alltägliche zum Besonderen werden zu lassen. Der Germanist Heinrich Detering schrieb über die Haikus, dass vielleicht „keiner der bei Lebzeiten kanonischen europäischen Dichter dem zenbuddhistischen Ideal des Verschwindens aller Subjektivität, der lautlosen Hingabe so nahe gekommen“ sei wie „dieser schwedische Asket“. So mag Tomas Tranströmer denn ausharren bei seinen Herbstbüchern und Inselwinteräpfeln: „Schaut wie ich sitze/ wie ein an Land gezogener Kahn. / Hier bin ich glücklich.“

Richard Pietraß, 1946 im sächsischen Lichtenstein geboren, lebt als Schriftsteller in Berlin. Er gibt die Lyrikreihe „Poesiealbum“ heraus. Zuletzt erschien von ihm „Kippfigur. Ein Kiebitzbuch über die Schulter von Richard Pietraß geschaut“, bei der Berliner Edition Zwiefach.

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