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Die Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger.
© dpa

Diskussion um Kinderbücher: Ein Gemüsediktator namens Jerusalem

Gerade wird eine erregte Debatte geführt, weil in Kinderbüchern von Astrid Lindgren und Otfried Preußler rassistische Begriffe ausgetauscht werden sollen. Nun könnte es auch in einem Klassiker von Christine Nöstlinger antisemitische Untertöne geben.

Christine Nöstlingers 1973 erschienener Roman „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ gilt als Klassiker – wie die Bücher von Astrid Lindgren, die jetzt von vermeintlich rassistischen Wörtern befreit werden sollen. Er wurde mehrfach für den Deutschunterricht aufbereitet und liegt als Hörbuch vor. Kinder- und Jugendliteratur-Portale ermuntern zu seiner Lektüre, Amazon-Kundenrezensionen beschreiben die zeitlose Freude, die der Text bereitet: Erwachsene, die ihren Kindern das Buch heute vorlesen, erinnern sich daran, wie sie sich selbst einmal dafür begeistert haben.

Worum geht es? Detlef Richter fasst es in dem Portal „Leser-Welt“ folgendermaßen zusammen: „Dieses Osterfest wird Familie Hogelmann so schnell nicht vergessen, denn auf dem Küchentisch sitzt eine Art Gurke mit Armen und Beinen und einer Krone auf dem Kopf (...). Der widerliche Fiesling, der von seinen Untertanen aus dem tiefsten Keller vertrieben wurde, wirbelt mit seinem autoritären Benehmen den Hogelmann-Alltag komplett durcheinander und stiftet nichts als Unfrieden.“

Ottfried Preusslers "Kleine Hexe".
Ottfried Preusslers "Kleine Hexe".
© dpa

Da Vater Hogelmann als Einziger Mitleid mit dem Monarchen hat, richtet sich der Protest der anderen Familienmitglieder bald auch gegen ihn. Ihren Höhepunkt finden die Geschehnisse, als der Gurkenkönig dem Vater finanzielle Versprechungen macht und im Gegenzug verlangt, dass dieser den Keller unter Wasser setzt. Die Kinder vereiteln den Anschlag auf die Untertanen. Dann wird ein Entschluss gefasst: Der „Gurkinger“ muss weg. Nik, der jüngere Sohn, karrt ihn in einem Puppenwagen zu einem offenen Kellerfenster, in dem der König verschwindet. Der Störenfried ist, in Niks Worten, „abserviert“.

Aufklärung mit pädagogischem Wert. Oder in den Worten der Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises 1973: „Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit und Differenziertheit werden Denkanstöße gegeben, die nicht ermüden oder verdrießen, weil die phantasievolle Autorin dem jungen Leser aktuelle Probleme spannend und humorvoll vermittelt.“ Und da der flapsige Ton die Identifikation mit dem Erzähler jungen Menschen erleichtert, spricht das nur umso mehr für eine Geschichte, die davon handelt, wie man sich gegen Tyrannen zur Wehr setzt.

So weit, so gut. Wäre da nicht ein irritierendes Detail. Der Gurkenkönig heißt „Kumi-Ori“. Dieser Name ist kein Produkt der Fantasie, sondern ein Zitat. Es handelt sich um zwei Imperative des Hebräischen: „Erhebe dich“ und „Leuchte“. Mit diesen Worten beginnt der Vers Jesaja 60, 1. Gemeint ist Jerusalem. Die Verheißung, die zum Ausdruck kommt – „Zions zukünftige Herrlichkeit“ – ist die zentrale Stelle des Sabbathymnus „Lecha dodi“, der zum allwöchentlichen Empfang der „Braut“, der „Königin Sabbat“, gesungen wird. Erinnert werden muss auch an Paul Celans Ende 1967 entstandenes Gedicht „DU SEI WIE DU“, das mit den Worten „kumi / ori“ endet. „Kumi ori“ ist nicht irgendein Zitat aus dem Tanach, sondern eine essentielle Stelle, von der aus die Bedeutungsebenen Jerusalems als „Braut“, als „Königin Sabbat“ sowie als „Schechina“ – als von Gott exilierter weiblicher Aspekt seiner selbst – erschließbar werden.

Betrachten wir nun noch einmal die Geschichte der 1936 geborenen Nöstlinger: An Ostern (!) taucht aus düsteren Kellertiefen der vertriebene König (!) „Jerusalem“ auf. Er ist anmaßend-arrogant, verlangt – in verdrehtem (!) Deutsch –, bedient zu werden und stiftet vom Moment seines Erscheinens an Unfrieden in einer unbescholtenen Familie. Er lügt, intrigiert, zieht Geheimnisse der Familienmitglieder ans Licht, versucht, den Vater mit Versprechungen von Reichtum zum Mord anzustiften. Als die Geduld der Getriezten zu Ende ist, wird er „abserviert“.

Wäre es allein um einen exotischen Effekt gegangen, warum hätte der „Gurkinger“" nicht einen tatsächlich erfundenen Namen erhalten können? Den Standpunkt, ein Jugendbuch sei schließlich keine theologische Abhandlung, wird man nicht vertreten können. Doch wie man es dreht und wendet: Es passt nicht zusammen. Warum sollte ein explizit antimonarchistisches Bündnis gegen den „Gurkinger“ (und den Vater) gebildet werden, wenn es darum ginge, am Ende die Demokraten zu entlarven und den vertriebenen König als Opfer darzustellen? Vielmehr läuft alles darauf hinaus, dass man sich am Ende mit Nik und Wolfi über den Triumph freut. Die Frage ist nur, ob diese Genugtuung uns noch geheuer ist, wenn wir wissen, was „kumi ori“ bedeutet. Wir haben es also mit einer Geschichte zu tun, die der Aufklärung huldigt, indem sie die Ungerechtigkeit einer abgelebten Staatsform deutlich macht, und zugleich das Ressentiment bedient, indem sie das Übel mit dem Judentum verbindet. So setzt die Geschichte ihr Anliegen selbst außer Kraft.

Das ist das eigentlich Erschreckende. All die Lobpreisungen wurden um eine Leerstelle herum geschrieben. So hat man seinen Spaß mit einem Buch, dessen Titel eigentlich lautet: „Wir pfeifen auf Jerusalem“.

Der Autor ist Lyriker und Germanist. Er lehrt an der Adam-Mickiewicz-Universität im polnischen Poznan.

Lothar Quinkenstein

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