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Jüngster Sohn von Rut und Willy Brandt. Matthias Brandt, geboren 1961 in Berlin.
© imago/Astrid Schmidhuber

Matthias Brandt und "Raumpatrouille": Ein anderer werden, wie alle sein

"Raumpatrouille": Der Schauspieler Matthias Brandt debütiert mit eindrücklichen Kindheitsgeschichten.

Das Kind weiß um seine Schwächen: Manchmal tauchen „durchwogender Jähzorn“ und eine „leidige Wut“ auf. Auch eine Neigung zum Rückzug, zum grüblerischen Verstecken vor den Ansprüchen der Welt, ist da. Seine größte Lust muss das Sichverkleiden gewesen sein: Astronauten- oder Trapperausrüstungen für die kleinen Fluchten. Als das Kind eine Torwartausrüstung anzieht, verwandelt sich der „spillerige Elfjährige“ in einen „muskulösen jungen Mann“ und erkennt: „In dem Moment, in dem ich die Heldenverkleidung überstreifte, ging ich über meine bisherige Existenz hinaus und wurde zu einem anderen.“

Der Schauspieler Matthias Brandt, 1961 in Berlin geboren, erzählt 14 Geschichten aus einer Kindheit der siebziger Jahre: mit einer Leichtigkeit, die sich oft aus Ironie und Selbstironie speist, manchmal auch aus Wehmut über verpasste Chancen. Angesiedelt ist das Ganze in Bonn, in einem von Wachpersonal beschützten „großen, weißen Haus“. Wer sich trotz privater Momente allerdings intime Einblicke in das Leben der Familie des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt erhofft, dürfte enttäuscht werden. Denn der Sohn Matthias Brandt macht seinen Schreibansatz schon im Motto deutlich.

Er bekennt sich zu einer doppelten Wirklichkeit: „Alles, was ich erzähle, ist erfunden. Einiges davon habe ich erlebt. Manches von dem, was ich erlebt habe, hat stattgefunden.“ So ist auch der Titel „Raumpatrouille“ mit Hintersinn gewählt. Darin spiegelt sich ein fremdelnder Blick, der sich um eine neue Perspektive auf das Geschehene bemüht.

Die Echtheitsfrage wird von vornherein ausgeklammert, postuliert wird vielmehr die Freiheit zur Fiktion – auch beim autobiografischen Erzählen, das hier ohne Zweifel ebenfalls stattfindet. Das Grundproblem autobiografischen Schreibens hat Günter de Bruyn einmal in seinem Essay „Das erzählte Ich“ analysiert: „Das Schwierige an der Wahrheit ist, dass es viele gibt, weil jeder die seine hat. Jede Selbstdarstellung ist zeitbezogen und voreingenommen. Auch wer sich vornimmt, sein eigenes Leben wie das eines anderen beschreiben zu wollen, ist der Subjektivität ausgeliefert, und wer von sich in der dritten Person redet, gewinnt nur den Schein von Objektivität.“ Dazu kommt der verzerrende Faktor Erinnerung.

Alle 14 Geschichten sind in der Ich-Form geschrieben. Sie handeln von einer Suche nach den Stationen einer Charakterentwicklung. Von der Begeisterung über die erste Mondlandung am 20. Juli 1969. Von der Trauer über den Tod des geliebten Hundes. Von der Leere eines nur für die Presse inszenierten Ausflugs mit Vater und Mutter auf einen Rummelplatz. Oder vom rituellen Kakaotrinken mit dem schweigsamen Nachbarn Heinrich Lübke.

Das Trauma des erzählenden Ichs wird in der Geschichte „Kein Laut“ besonders deutlich: Es hadert mit seiner Ausnahmestellung als Sohn des Bundeskanzlers. So beteiligt sich der Drittklässler an den Prügeleien gegenüber dem Mitschüler Ansgar, der von der „Aura des Weichlings“ umgeben ist: „Den größten Außenseiter mit zu quälen, war die einfachste Art, zu sein wie die anderen, und das war mein brennendster Wunsch.“ Doch Gruppenzwang und Mitgefühl gewinnen die Oberhand. Und so kommt es manchmal zu heimlichen Verabredungen mit Ansgar. Als Mitschüler dies schließlich herausfinden, geht es für den Ich-Erzähler in der großen Pause nun „ums Überleben“: „Ohne dass wir ein Wort wechselten, baute ich mich vor ihm auf. Hob langsam die Hand. Und während er sich hinkauerte und, seine Arme schützend über dem Kopf, zu winseln begann, trafen sich unsere Blicke. In ihnen lag schon die Verabredung für den Nachmittag.“

Geschichten und Songs - ein Projekt mit Jens Thomas

„Kein Laut“ ist eine der ergreifendsten Geschichten im faszinierenden Kaleidoskop von „Raumpatrouille“. Einige korrespondieren mit Songs des zeitgleich mit dem Buch erscheinenden Albums „Memory Boy“ des Jazz-Musikers Jens Thomas. Text und Musik seien, notiert der Autor im Nachwort, parallel entstanden: „Mal entwickelte sich der Song aus einer Geschichte, dann wieder war es andersherum.“ In der Rückschau öffnet sich auch der Raum für kluge Einordnungen der kindlichen Befindlichkeit. Brandt bedient sich der verknappenden Mittel der Kurzgeschichte und beendet seine Miniaturen meist mit einer Pointe. Erzählt wird in klarem sprachlichen Fluss, ohne Schnörkel und Pirouetten.

Die Existenz von Geschwistern – der Bruder Lars Brandt hat sich schon vor zehn Jahren mit dem Erinnerungsbuch „Andenken“ und später zwei Romanen einen Namen gemacht – wird ausgeklammert. Das offenbar äußerst liebevolle Verhältnis des Ich-Erzählers zu seiner Mutter schlägt sich in „Du und ich“ nieder, einer Geschichte voller Glücksmomente während einer Urlaubsreise nach Norwegen. In der letzten Geschichte „Was ist“ werden kostbare Augenblicke mit dem Vater festgehalten, der „ja immer mit wichtigen Dingen beschäftigt“ war.

Der verfügt über einen eigenen Wohnbereich mit separatem Eingang. Aus Langeweile schleicht sich das Kind auf dessen Territorium: Dort traut es sich, den am Schreibtisch Eingenickten zu wecken und darum zu bitten, ihm etwas vorzulesen: „Vorsichtig rutschte ich näher. Den Kopf schließlich, nach kurzem Zögern, erst auf seiner Schulter, dann auf seinem Schoß, schaute ich nach oben, sah die ledrigen Wangen mit dunklen und grauen Bartstoppeln und war kurz versucht, sie zu berühren. Aber keinesfalls wollte ich den Moment zerstören.“ So wird das Gewicht der Kindheit mit einem Bild der Zärtlichkeit aufgehoben.

Matthias Brandt: Raumpatrouille. Geschichten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 173 Seiten, 18 €.

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