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Die Sonntagsausgabe vom 24.05.2020 der "New York Times".
© Wang Ying/XinHua/dpa

Titelseite der New York Times: Ein Akt des Widerstands und der Humanität

Empathie und Protest: Die New York Times veröffentlicht eine Liste der Namen von Corona-Toten. Und beweist, warum das Wort stärker ist als das Bild.

Namen sind Schall und Rauch. Das war schon immer ein merkwürdiger, wenn nicht falscher Satz. Die „New York Times“ hat ihn in ihrer Sonntagsausgabe mit einer außergewöhnlichen, weltweit wahrgenommenen Aktion widerlegt. Auf ihrer Titelseite druckte die Zeitung, bildlos, die Namen von tausend Covid-Toten in den USA, mit jeweils einer kurzen persönlichen Bemerkung; wer die oder der Gestorbene war, was sie oder er getan hat im Leben. Lynne Sierra (68) aus t Roselle in Illinois war „eine Großmutter, die immer voller Ideen war“. Jose Diaz-Ayala (38) aus Palm Beach, Florida, „hat 14 Jahre dem Büro des Sheriffs des Bezirks Palm Beach gedient“. Ein knappes Epitaph und umso berührender in Zeiten, in denen die Statistik regiert. 

„They were not simply names on a list. They were us“. Sie waren nicht bloß Namen auf einer Liste, sie waren wir – sie gehörten zu uns. So stand es auf der Front Page. So kamen die Blätter aus der Druckerei, während die Zahl der Pandemie-Toten auf die 100 000 zuging und wohl schon überschritten hatte, die hohe Dunkelziffer dazugerechnet. 

Eine Zeitungsseite wie eine Grabplatte. Eine Bleiwüste, wie Zeitungsleute sagen. Wobei US-Zeitungen regelmäßig kleinere und größere Nachrufe drucken, die Obituaries sind eine Kultur für sich. Diese Sonntagsseite aber war der stillste und zugleich massivste Kommentar gegen die Leugner und Verharmloser der Pandemie in den USA, allen voran Präsident Trump. Auf dem Weißen Haus hingen die Fahnen wegen der Panemie-Toten auf Halbmast, Trump spielte ein paar Löcher Golf. Seriöse Medien wie die „Times“ und CNN wissen um die Bedeutung von Wissenschaft in der Krise, im Gegensatz zum Präsidenten, der über Corona und mögliche Medikamente lebensgefährlichen Unsinn verbreitet. 

Was ist das Leben eines Menschen wert?

Was ist das Leben eines Menschen wert? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Menschenleben in den USA wenig zählt. Das „Gun Violence Archive“ registriert seit Jahren die Zahl derjenigen, die durch Schusswaffen sterben, allerdings anonym. 15837 Schusswaffentote meldet diese Website am 25. Mai 2020, 6201 Morde, 9636 Selbstmorde. Die Suizide haben in den USA in den letzten Monaten stark zugenommen.

Mit der Liste der Namen greift die Zeitung ein altes Ritual auf. Wer sind sie, wer waren sie? Homer betrachtet und benennt im Epos um den Trojanischen Krieg Homer die Schiffe der griechischen Flotte, die gegen Troja segelt; und wie viele würden nicht heimkehren. In den „Persern“ des Aischylos, dem ältesten überlieferten Drama der Theatergeschichte, 475 v. Chr. in Athen uraufgeführt, werden die Namen der toten Anführer des geschlagenen Perserheeres aufgezählt. 

Wie sie hießen, woher sie kamen, was sie auszeichnete. Man nennt es kühl „Katalogdichtung“. Doch welche Kraft liegt darin! Durch Aufzählung, Wiederholung, Vergegenwärtigung entsteht Empathie: „Und Susa haben sie und Agbatana/Und das altehrwürdige Gehege von Kission/Verlassen und gegangen sind/Auf Pferden die einen, andere/Auf Schiffen, zu Fuß und auch im Schritt/Die Krieger, Haufen bildend/Wie Amistres und auch Artaphrenes/Und Megabates und Astaspes/Und Artembares, ein mutiger Rossekämpfer/Und der bogengewaltige, edle Imaios/Und Pharandakes/Und der Pferde Treiber Sosthanes“ (in der Übersetzung von Peter Witzmann). 

Der Ruf nach den Toten

Der Ruf nach den Toten, das Aufrufen ihrer Namen und ihrer Herkunft gibt ihnen Würde zurück. Bei den Gedenkveranstaltungen für die Opfer der Terrorattacken auf das World Trade Center am Ground Zero in New York wird es ähnlich praktiziert. Die Namen der Getöteten verhallen nicht ohne Echo.

In der Gedenkstätte Yad Vasehm in Jerusalem wird die Zentrale Datenbank der Opfer des Holocaust gepflegt. In der „Halle der Namen“ werden sie aufgerufen. Auf der Website von Yad Vashem steht: „Ich möchte, dass sich jemand erinnern wird, dass einst ein Mensch gelebt hat, der David Berger hieß“. David Berger schrieb das in seinem letzten Brief aus Vilna. Ein Allerweltsname. Auf dass sich alle Welt erinnert. Zu den Covid-Toten zählen in den USA auch viele Überlende des Holocaust. 

Das Vietnam Veterans Memorial in Washington D.C. wurde 1982 eingeweiht. Auf einer Mauer aus schwarzem Granit, 75 Meter lang, stehen 58 200 Namen. Sie waren Soldaten der US-Armee und starben in Vietnam, sehr junge Menschen in der Mehrzahl. Das Monument ist, wenn auch so nicht gedacht, ein Denkmal gegen Kriege. 

Anonymität tötet ein zweites Mal

Namen haben Macht über Menschen. Hier ist das Wort stärker als das Bild. Denn Anonymität tötet ein zweites Mal. Als Ai Weiwei Listen mit den Namen der Kinder veröffentlichte, die beim großen Erdbeben in der Provinz Sichuan im Mai 2008 getötet wurden, war das ein Protest gegen die Informationsblockade der chinesischen Regierung. Im November 2017 veröffentliche der Tagesspiegel eine Liste der Namen von Zehntausenden, die auf der Flucht am und über das Mittelmeer umgekommen sind. Es war eine Aktion der türkischen Künstlerin Banu Cennetoglu in Zusammenarbeit mit dem Maxim Gorki Theater. Die Listen wurden auch auf Säulen Unter den Linden ausgehängt.

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Empathie und Öffentlichkeit – ein hohes Gut. Schnelle Nachrichtentaktung, ständig neue Krisenherde, Konflikte und Naturkatastrophen stellen das Auffasungsvermögen und die Fähigkeit zum Mitleiden auf eine schwere Probe. Ein Typ wie Trump rät zur Indolenz und Abstumpfung. Dabei spielt die verheerenden Folgen des Covid-Virus im anfälligen, wenn nicht maroden Gesundheitssystem der USA herunter. Und die Trumper treten auch eine moralische Praxis mit Füßen, die in den USA mehr zählt als in vielen europäischen Ländern – nicht immer nur den Täter in den Vordergund zu stellen, sondern auch über die Opfer zu sprechen. 

Namen verbinden Menschen mit ihrer Familie, ihrer Kultur und Religion. Der Mensch prägt den Namen und das gilt auch umgekehrt: Der Name ist ein Zeichen. Der Name zählt. „Ich habe einen Namen“ (Know My Name) ist der Titel eines Buchs von Chanel Miller, ein Bestseller in den USA. Sie schreibt über sexuelle Gewalt, die sie erlebt hat. Chanel Miller ist ihr richtiger Name. Unter dem Pseudonym Emily Does veröffentlichte sie ihren Bericht zuerst auf BuzzFeed.

Die gewaltige Resonanz, die die „New York Times“ mit den Namen auf ihrer Titelseite ausgelöst hat, tiefschwarz, archaisch, könnte das finstere Bild korrigieren, das man sich in diesen Tagen von Amerika macht. Amerika ist nicht Trump. Diese Front Page ist ein Akt des Widerstands und der Humanität. Thomas E. Anglin (85) aus Cumming in Georgia „schuf viele wunderbare Erinnerungen für seine Familie“. Sie machen einen sprachlos, diese Namen. Plötzlich merkt man, dass man sie laut liest und Tränen in den Augen hat. Tränen der Trauer und der Wut.

Rüdiger Schaper

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