Wiener Philharmoniker in Berlin: Ein Akkord geht auf Wanderschaft
Die Wiener Philharmoniker spielen im Konzerthaus ohne Dirigent, stattdessen mit Rainer Honeck als Konzertmeister und Wilhelm Matejka als Moderator.
Gespannte Stimmung im Konzerthaus, denn erstens sind die Wiener Philharmoniker zu Gast, und zweitens hat man den Saal von der gewöhnlichen Bestuhlung und Bebühnung befreit, sodass das Kathedralenhafte dieses Raumes fühlbar wird, das kostbare Aufgehobensein der Zuhörenden zwischen dem Parkett zu Füßen und den Kronleuchtern ganz oben. Inmitten sitzen die Philharmoniker, heute ohne Dirigent, stattdessen mit dem legendären Rainer Honeck als Konzertmeister und Wilhelm Matejka als Moderator.
Sie spielen ein Programm, das fortzusetzen scheint, was Schönberg in seinem Orchesterstück „Farben“ ausprobierte, nämlich das Wandern des immergleichen Akkordes durch die kleine Landschaft eines Symphonieorchesters. An dieses Stück denkt man nun sehnsuchtsvoll, während die deutsche Erstaufführung von „Scattered Light“ des 1974 geborenen Johannes Maria Staud erklingt. Sie wirkt wie der Flohwalzer auf einem teuren Instrument; vor allem geht es um klar geschnittene, unkomplizierte Liegetöne, eine Palette von orchestralen Primärfarben, mit der ein prometheisch veranlagtes Kind das musikalische Klecksen üben könnte.
Selbstgewissheit und Idiomsicherheit
Nur manchmal, wenn die Bassflöte zarte melodische Gebilde spielt oder die Geigen mit ihren Liegetönen ins Rutschen geraten, tut sich etwas in dieser „skulpturalen Komposition“ (Staud), das zumindest den Anschein von Leben hat. Dann doch lieber John Cages Zufallskomposition „Sixty-Eight“ von 1992 gleich danach, zwar ebenfalls ohne große Anforderungen an dieses Spitzenensemble, aber neu und lustig ausgedacht. Cage sah 68 Musiker vor, die jeweils 15 Töne genau 30 Minuten lang spielen. Die philharmonischen Streicher schmunzeln nur ein ganz kleines bisschen, während sie ihre Einzeltöne je nach Gusto und mit Verve setzen, die Schlagzeuger hauchen mit krassen Einwürfen Leben in die Bude, und so zittert man geradezu, als die Smartphone-Timer auf den Notenpulten die letzten Sekunden dieses Stückes annoncieren, als ginge es tatsächlich an den Tod.
Nach der Pause erklingt Schönbergs „Verklärte Nacht“. „Eine halbe Stunde Gefühlskino“, fasst Matejka zusammen, und es ist gar nicht klar, ob er es nicht doch herablassend meint. Alles tritt nun zusammen, was diesen Abend auszeichnet: Der gleichsam brennende Ton von Rainer Honeck. Die Selbstgewissheit und Idiomsicherheit des Orchesters, die Weigerung, diese Musik süßlich klingen zu lassen. Die Entscheidung, ohne Dirigent zu spielen, gruppendynamisch bedeutsam, aber im akustischen Ergebnis immer ein wenig crazy. Die kuriose Bestuhlung des Saales, die reichlich Kontaktzonen zwischen Ausführenden und Zuhörenden schafft, aber das Klangerleben leider doch behindert. Gleichwohl: ein blitzender, interessanter Abend. Im Dezember kommen die Wiener Philharmoniker wieder, dann mit Dirigent.