Michael Wollny & Vincent Peirani: Duo ingeniale
Der Pianist Michael Wollny und der Akkordeonist Vincent Peirani gehen auf ihrem Album „Tandem“ eine hinreißende Liaison ein.
Vor allem anderen: Nur weg mit der Fahrradmetapher! Das „Tandem“, nach dem der deutsche Pianist Michael Wollny und Vincent Peirani ihr Duo-Album benannt haben, trifft die Rollenverteilung in keiner Weise. Vorne lenkt der Kapitän und hinten tritt der Zweite in die Pedale? So, wie der deutsche Pianist und der französische Akkordeonist einander umschmeicheln und umschlingen und einen tönenden Körper bilden, ist das ein unglückliches Bild.
Ein Stück näher kommt man der Sache, wenn man ihr Treiben auf die Tandem-Methode bezieht, bei der sich zwei Muttersprachler aus verschiedenen Ländern die Sprache des jeweils anderen beibringen. Wobei man sich auch da fragen kann, was es eigentlich zu vermitteln gibt. Wortschatz und Grammatik des zeitgenössischen Jazz-Esperanto verwenden sie mit selbstverständlicher Virtuosität, und wo der gebürtige Unterfranke und der Mann von der Côte d’Azur sonst noch etwas zu bereden haben, verständigen sie sich auf Englisch.
Die grundlegende Fremdheit, die es zu überwinden gilt, liegt in ihren Instrumenten. Hier der mechanisch beatmete Organismus eines Knopfakkordeons, dessen Durchschlagzungen eine erstaunliche Klangvielfalt vom asthmatischen Hecheln bis zum Flöten im Diskant erzeugen können, aber selbst im brausenden Tutti etwas seltsam Heimeliges behalten. Dort das hammerbetriebene Ungetüm eines Konzertflügels, dessen Gussrahmen Zugkräfte von umgerechnet bis zu 25 Tonnen aushalten muss. Jede Zartheit ist hier auch eine Lüge, und wer wie Wollny nicht nur die Tasten anschlägt, sondern auch tief in den Eingeweiden die Saiten streichelt, muss am besten wissen, welche Gewalten hier schlummern. Nicht ohne Grund ist die Paarung von Klavier und Akkordeon wenig verbreitet.
Am nächsten kommt man dem symbiotischen Ergebnis, wenn man sich mit der Coverzeichnung befasst. Jorinde Voigts „Lacan-Studie“ zeigt einen blauen, in mehreren Windungen übereinandergelegten Schlauch – in der aus der mathematischen Topologie stammenden Terminologie des französischen Psychoanalytikers einen Torus. Stark vereinfacht ausgedrückt ist er eine Variation des Möbiusbandes, bei dem es kein Innen und kein Außen gibt. Doch man muss keine einschüchternden Theorien bemühen, um sich der zumeist stillen Energie dieser Musik zu überlassen, die manchmal komplizierter anmutet, als sie gestrickt ist, und manchmal raffinierter, als sie klingt.
Aneignungen, nicht Verwandlungen
Zehn Titel und ein hidden track finden sich auf „Tandem“. Vier eigene Stücke, die haltbarsten und farbigsten des Albums, sind zwischen Fremdkompositionen eingewickelt, deren unorthodoxe Zusammenstellung fast prahlerisch heterogen wirkt. Besonders vor Samuel Barbers auch hierzulande als Begräbnismusik vordringendem „Adagio for Strings“ könnte man sich fürchten. So geschmackssicher indes die beiden dieses gerne vor Sentimentalität triefende Stück emporheben und durch ihre Instrumente betrachten, ohne es auf fremdes Gattungsterrain zu ziehen, gesellt es sich überzeugend zu Tomás Gubitschs Tango „Travesuras“ oder Sufjan Stevens’ „Fourth of July“, einem Sterbesong auf seinem „Carrie & Lowell“-Album, dem man nicht zutrauen würde, dass es sich überhaupt von seiner Stimme ablösen lässt.
Es sind durchweg Aneignungen, nicht Verwandlungen, die Wollny und Peirani leisten – Interpretationen im Sinn der Komponisten. Und wenn sich die beiden am Ende Judee Sills „The Kiss“ vornehmen, den vielleicht größten Hit ihres unglücklich kurzen Singer-Songwriter-Lebens, dann besitzt er die ganze Innigkeit des Originals, abzüglich des Pathos, der im Refrain – wie bei vielen anderen ihrer Lieder – durch einen Registerwechsel entsteht, der die Melodie nach mehreren Anläufen genau eine dramatische Oktave nach oben reißt.
Wie so oft bei Wollnys jüngeren Aufnahmen ist das Jazzhafte nicht immer auf Anhieb erkennbar. Und Peirani nimmt sich, gemessen an seinen zur glitzernden Fusion tendierenden Aufnahmen auf „Living Being“ oder auch dem Duo mit seinem Freund, dem Sopransaxofonisten Émile Parisien („Belle Epoque“), deutlich zurück. Wo also ist es? Es steckt in den improvisierten Soli, die Björks aus elektronischen Landen in Bolero-Gefilde transportierten „Hunter“ agitieren, in Gary Peacocks eleganter, von einem Dreiergefühl durchzogenen Vierviertel-„Vignette“ oder den irrlichternden, zurück in Wollnys „Hexentanz“- und „Wunderkammer“-Welten führenden „Bells“.
Klang ist alles
Vor allem zeigt es sich im befreiten Zugriff auf die Klangwerte des Materials, in Wollnys satiehaft mäandernden „Sirènes“ oder in Peiranis ohrwurmhaft walzerndem „Did you say Rotenberg?“. Vielleicht ist es, auch dank exzellenter Pariser Toningenieure, nirgends subtiler zu hören als im Eröffnungsstück „Song yet untitled“ des Schweizer Sängers Andy Schaerer, der sich als Kopf des Sextetts Hildegard Lernt Fliegen einen Namen gemacht hat. Aus einer im Prinzip unscheinbaren Dreiakkordstruktur im Tritonus-Abstand und einem hymnisch aufrauschenden Mittelteil in Moll gewinnt sie ein Maximum an Spannung. Der Clou ist der orgelnde Bass, der, in Wollnys Flügel zuerst geschlagen, später auch gerieben, dem Ganzen unterliegt.
Vor drei Jahren gab es auf „Thrill Box“, Vincent Peiranis ACT-Debüt, zusammen mit dem Bassisten Michel Benita schon eine erste – jazzigere – Zusammenkunft mit Wollny. Sie geriet nicht halb so dicht wie jetzt bei „Tandem“. Immerhin konnte man bereits hören, warum er, nach Richard Galliano und Jean-Louis Matinier, als der beste französische Akkordeonist seiner Generation gilt. Diese Musik ist nicht neu, sie ist stilistisch nicht wegweisend wie die von Guy Klucevsek, der das (Tasten-)Akkordeon, inspiriert von John Zorn, ins schroffe Niemandsland zwischen Komposition und freier Improvisation geführt hat. Sie ist nur frisch, delikat und von einer bezaubernden Musikalität. Auch dieses Glück gibt es nicht alle Tage.
Michael Wollny & Vincent Peirani: Tandem (ACT Records)
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