zum Hauptinhalt
Jazz oder Nichtjazz? Michael Wollny, 37.
© Jörg Steinmetz/ACT

"Nachtfahrten" mit Michael Wollny: Es lockte mich ein Irrlicht

Hellwach im Traumverlorenen: „Nachtfahrten“, das neue Album des Pianisten Michael Wollny.

Das Unheimliche offenbart sich, wie Sigmund Freud treffend erklärt hat, gar nicht so sehr im Unvertrauten. Es ist vielmehr das Vertraute in fremder Gestalt. Der gespenstischste Beweis sind die Gesichte der Nacht, wie sie schon das alttestamentarische Buch Hiob beschwört. „Alle meine Gebeine erschraken“, heißt es darin. „Und ein Geist ging an mir vorüber; es standen mir die Haare zu Berge an meinem Leibe.“ Gut zwei Jahrtausende später hielt Franz Kafka die Urerfahrung einer in der Dämmerung zusammenbrechenden Ordnung in jenem Satz fest, der seine Erzählung „Ein Landarzt“ beendet: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.“

Irgendwo zwischen den künstlerischen Nachtschattengewächsen der schwarzen Romantik, den Erzählungen von Edgar Allan Poe, den Romanen von H.P. Lovecraft und den filmischen Mysterienspielen von David Cronenberg und Lars von Trier hat der Pianist Michael Wollny seine Leidenschaft für die schönen Schauer düsterer Parallelwelten entdeckt. Gerade erst hat er zum Auftakt der Leipziger Jazztage mit seinem Schlagzeuger Eric Schaefer und einem norwegischen Bläserensemble einen Soundtrack zu Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm „Nosferatu“ improvisiert: ein Konzert, das in großer Besetzung fortführte, was 2013 als Duoprojekt beim Enjoy Jazzfestival begann.

Seit vielen Jahren fließt Wollnys Faible für das Zwielicht in eine Musik ein, die traumverloren über den Abgründen des 19. Jahrhunderts schwebt und hellwach das Sinistre des 21. Jahrhunderts ins Auge fasst. Durch die „Schubertiaden“ seines ersten Soloalbums „Hexentanz“ (2007) wehte das Inventar einer Ästhetik, die das Erhabene in Ruinen, der stillen Verzweiflung verirrter Wanderer, nebligen Wäldern und dem Klagen der Windsbraut suchte. Zugleich schuf er, etwa in radikal reduzierten Bearbeitungen von Björk-Songs, tönende Gerippe aus der unmittelbaren Gegenwart.

Auch Michael Wollnys jüngstes Trioalbum „Nachtfahrten“ mit Schaefer und dem Schweizer Kontrabassisten Christian Weber begibt sich in ein Reich des Unheimlichen: nur dass sich die Dinge anders als in früheren Aufnahmen in halluzinatorischer Klarheit abspielen. Das nervös Flackernde ist einer erstaunlichen Ruhe gewichen, so als könnte man sich in dieser Parallelwelt tatsächlich einrichten – vielleicht weil man es muss.

Dabei ist das musikalische Ausgangsmaterial alles andere als vertrauenserweckend. Hier passiert man ein in kollektiver Improvisation entfachtes „Feu follet“, ein fahl aufglimmendes Irrlicht, und begegnet einem ebenso spontan illuminierten „Nachtmahr“, dort stimmt man auf den Spuren von Guillaume de Machauts „De desconfort“ in die Untröstlichkeitsklage eines Liebesmärtyrers ein.

Nicht weit davon entfernt, in Bernard Hermanns Stück „Marion“, trifft man jene unglückliche junge Frau aus Alfred Hitchcocks „Psycho“, die im Motel von Norman Bates Quartier nimmt. Und über allem scheint ein Mond, der mal als geisterhafter, den Noten von Wollnys Lehrer Chris Beier entstiegener „White Moon“ aufgeht, und mal, ganz gegen die strahlende Zuversicht des Kinderlieds „Au clair de la lune“, erst im albumbeherrschenden Moll ertrinkt und dann bis zur Unkenntlichkeit hinter der bis zum rhythmischen Grundmotiv heruntergedimmten Melodie zerfließt.

So viel Unheil die meisten Titel versprechen, so wenig geht es ums Ausmalen von Stimmungen. „Nachtfahrten“ ist keine Programmmusik. Es ist ein Reigen von 14 zwei-, drei- und vierminütigen Charakterstücken, die sich alle unter dem Begriff des „Nocturne“ fassen ließen, ihren inneren Zusammenhang aber durch die Verdichtung einfachster Motive erhalten: überwiegend zerbrechliche Gebilde im Schutz der Nacht, einen Fußbreit über der Stille angesiedelt.

Die Titel- und Schlusskomposition bildet dabei eine Art verzerrtes Spiegelbild des Eröffnungsstücks. Während Angelo Badalementis „Questions in a World of Blue“, geschrieben für David Lynchs „Twin Peaks: Fire Walk With Me“ und die Sängerin Julee Cruise, als instrumentales close reading im gleichmäßigen Schlag der Besen dahinschlurft, stolpern Wollnys „Nachtfahrten“ verlangsamt daher. Bassdrum und Snare knallen unzählbar asynchron in die Einheit von Bass und Klavier, und was bei Badalamenti definierte Kadenzen sind, moduliert sich hier schleichend, Ton um Ton, voran.

Ist das Pop, Jazz oder zeitgenössische Klassik?

Studioatmosphären. Selfies mit Wollny, fotografiert von seinem Drummer Eric Schaefer.
Studioatmosphären. Selfies mit Wollny, fotografiert von seinem Drummer Eric Schaefer.
© ericschaeferdrums.tumblr.com/

Aber was ist das überhaupt für eine Musik? In der zumeist reproduzierbaren Kompaktheit der Stücke hat sie etwas von Pop, in den kompositorischen Verfahren etwas von zeitgenössischer Klassik. Oder fällt sie in ihrem befreiten Atmen doch am ehesten unter das, was man heutzutage unter Jazz verstehen müsste, weil es in den entsprechenden Regalen geführt wird? Der 37-jährige Michael Wollny selbst, seit vergangenem November mit einer Jazzprofessur in Leipzig ausgestattet, hat in den letzten Jahren Wert darauf gelegt, vor allem als improvisierender Künstler betrachtet zu werden. Doch auch damit ist es jenseits der beiden Kollektivimprovisationen nicht weit her.

Auf „Nachtfahrten“ zeigt sich Wollnys Improvisationsgeist vor allem im Ornamentalen, mit dem er Themen umspielt, und spezifisches Jazzvokabular findet sich genau genommen nur ein einziges Mal. Eric Schaefers „Motette Nr. 1“ führt auch am weitesten zurück in die Zeit von (em), dem Trio, mit dem Wollny berühmt wurde. In nicht mal drei Minuten entwickelt das Stück erstaunliche Fliehkräfte, und Wollny rast in seinem Solo über Quartblöcke in der linken Hand hinweg, die zweifelsfrei zur lingua franca des zeitgenössischen Jazz gehören. Sonst fehlt fast jede herkömmliche Jazzharmonik.

Das also ist Wollnys neue Geschlossenheit. Noch souveräner als auf seinem letzten Trioalbum „Weltentraum“ lebt sie von einer konzeptionellen Instinktsicherheit, wie sie die besten Alben von Radiohead auszeichnet und die vielleicht das Geheimnis dieser Musik ist, derer man auch nach dem x-ten Hören nicht überdrüssig wird. Es gibt hier zauberhafte Details: Eric Schaefers in „Marion“ aus dem Handgelenk auf die Toms fallengelassene und dann sanft zurückfedernden Drumsticks; das sich urplötzlich über umherschweifenden Moll-Dreiklängen in Dur und einer feindlich verrutschten Tonart erhebende Zweitthema von „Der Wanderer“; oder die Bach’sche Gravität, mit der er das solistische „Metzengerstein“ angeht, betitelt nach Edgar Allan Poes frühester Kurzgeschichte.

Doch all dies zeigt nur die eine Seite seiner Kunst. Bei anderer Gelegenheit spinnt er sein Material nach wie vor in langen Improvisationen aus, zieht und zerrt an ein paar Brocken Alexander Skrjabin, aus denen er im Juni einen Soloabend im Hamburger Mojo-Club entwickelte, der zu großen ekstatischen Momenten fand. Im zweiten Teil remixte Jan Peter Schwalm das Ganze zu einer fantastischen elektronischen Soundscape. (Beides nachzuhören in der Mediathek des NDR.) Und vor Kurzem nahm er sich mit dem Stimmkünstler Alex Nowitz und dem Elektronikbastler Leafcutter John in Frankfurts Alter Oper Bachs „Goldberg-Variationen“ vor. Oder er begibt sich in einen mitreißenden Dialog mit Wolfgang Haffner, der als grooveorientierter Drummer in vielem das Gegenteil des perkussiven Eric Schaefer ist und ihn zu mächtigen Vamps anstachelte – und zu Reverenzen an eine Jazztradition, der er sonst eher aus dem Weg geht.

Mit seinem Trio beschreitet er, zumindest wie es im Studio funktioniert, nun einen Weg, der in seiner Introvertiertheit einfach klingt und doch schwer zu imitieren ist. Er ist gleich weit entfernt von der Hochenergie des britisch-skandinavischen Trios Phronesis, das da weitermacht, wo (em) aufgehört hat, und von den ironischen Spielereien von The Bad Plus. Und es hat wenig mit den Luftgespinsten und Sturmwolken im Sinn, die der Pianist Paul Bley einst mit Gary Peacock und Paul Motian zauberte – bis heute ein Höhepunkt nicht verabredeten Miteinanders. Fest steht aber auch: Auf der Bühne gelten auch für Michael Wollny andere Gesetze.

„Nachtfahrten“ erscheint beim Münchner Label ACT. Am 28. Oktober beginnt Wollny unter dem Motto „Solo – Duo – Trio“ im Berliner Kammermusiksaal eine ausgedehnte Deutschlandtournee mit Eric Schaefer und Christian Weber.

Zur Startseite