Themenschwerpunkt Inklusion: Dschingis Khan trifft Tschechow
Erfrischend, verstörend: Die Berliner Ensembles RambaZamba und Thikwa geben dem Theater neue Kraft.
Überredungskunst ist hier gefragt. Die Aufgabe an die junge Spielerin lautet, sich einen Platz auf der Bank oder der Couch zu erkämpfen, wo die anderen sich breit gemacht haben und nicht rücken wollen. „Alles ist erlaubt, außer weh tun“, gibt Regisseurin Gisela Höhne vor. Charmieren, verdrängen, an die Gutherzigkeit appellieren. Debbie versucht es lieb, auf die Mitleidstour, schließlich über Lautstärke. „Ist das jetzt Indonesisch?“, fragt ein Mitspieler. „Warum schreit die so?“, „Typisch Frauen“, scherzen die anderen.
Probe im Theater RambaZamba in der Kulturbrauerei. In einer frühen Phase wird an der Inszenierung „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht gearbeitet. Überwiegend mit Improvisationen. Neulich haben sie eine Begegnung zwischen Göttern und Menschen probiert. Die Erdbewohner kamen, um sich zu beschweren: über die Kälte, und dass die Straßenbahn nie pünktlich fährt. Ihre Götterdarsteller hätten sich die irdische Mängelliste ganz ernst notiert, im Sinne, aha, das merken wir uns mal, berichtet die Regisseurin lächelnd. Die Inszenierung verspricht einen in jeder Hinsicht eigenen Blick auf das Brecht-Stück. Und sie wird hochkarätig besetzt sein: neben den Darstellern des Theaters RambaZamba mit Angela Winkler und Eva Mattes. Als Profis unter Profis.
Die Leute aufklären - damit sie vor Behinderten keine Angst haben
Im Theater Thikwa an der Kreuzberger Fidicinstraße, der anderen Berliner Institution für inklusives Theater, steht die Generalprobe für die Wiederaufnahme des Erfolgsstücks „Schillers Schreibtisch“ an. Im Foyer sitzen Peter Pankow und Torsten Holzapfel, beide Urgesteine des Theaters mit dem hebräischen Namen, der Hoffnung bedeutet. Wenn man sie fragt, weshalb sie seit den neunziger Jahren hier spielen und durchweg drangeblieben sind, müssen sie nicht lange überlegen.
„Weil wir Künstler sind“, sagt Pankow. So einfach. Er wollte ursprünglich mal Koch werden, oder Gärtner, aber dann zog es ihn zum Theater: „Ich war Moralapostel damals und hab gesagt, ich als Behinderter lass mich nicht unterdrücken.“ Eine Botschaft der Freude, Gleichberechtigung und Fairness wollen sie bei Thikwa bringen, erklärt der Schauspieler. „Und die Leute aufklären, damit sie vor Behinderten keine Angst haben.“
Angst? Um Gottes willen. Aber vermutlich hat Pankow Recht. Es gibt keine Normalität im Umgang mit Behinderten, noch immer und vor allem nicht, wenn sie auf der Bühne stehen. Augenfällig wurde das 2013, als die Arbeit des Choreografen Jérôme Bel mit Darstellern des Zürcher Theaters Hora, „Disabled Theater“, zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Die Schauspielerin Julia Häusermann gewann am Ende sogar den Alfred-Kerr-Darstellerpreis. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Performer ihr Künstlersein behaupteten, entfachte Kontroversen. „Welches Rauschen das im Feuilleton ausgelöst hat, fand ich schockierend“, bekennt Gerd Hartmann, der zusammen mit Nicole Hummel das Theater Thikwa leitet. Als sei man nicht längst weiter im Diskurs.
Das Theater Thikwa versucht ja fortwährend, Grenzen zu sprengen. Wie in der Produktion „Dschingis Khan“, die in Zusammenarbeit mit der Performance-Gruppe Monster Truck entstand. Darin agieren Menschen mit Down-Syndrom – abwertend „Mongoloide“ genannt – als Mongolen in einer wüst überzeichneten Völkerschau. Die Folge war eine Flut von besorgten Darf-man-das-Fragen. „Unterstellt wurde, dass die Thikwas nicht fähig zur ironischen Selbstreflexion seien“, erzählt Theaterleiterin Nicole Hummel. Sind sie aber.
Das inklusive Theater feiert Erfolge, kämpft beharrlich gegen Vorurteile und Zuschreibungen. Und nichts ändert sich? Gisela Höhne, die Leiterin des vielfach ausgezeichneten Theaters RambaZamba, gibt zu bedenken: „Es ist eine vergleichsweise junge Kunst.“ Keine 25 Jahre alt. Da könne man keine Wunder erwarten. Beide Berliner Institutionen, RambaZamba und Thikwa, sind zur Wendezeit 1990 entstanden. Höhne erinnert sich noch, wie sie mit der Thikwa-Gründerin Christine Vogt im Wohnzimmer saß, vereint in Aufbruchstimmung, jede mit eigener Ästhetik und Handschrift unterwegs.
Eine furiose, tänzerische Tschechow-Bearbeitung: Behindertenbonus? Auf keinen Fall!
Beide Theater haben heute ein rund 40-köpfiges Ensemble, was nur über ein Modell funktioniert, bei dem die Schauspielerinnen und Schauspieler bei einer angeschlossenen Behindertenwerkstatt beschäftigt sind. Der Etat der Häuser ließe das sonst gar nicht zu. Für ihre künstlerischen Projekte müssen sowohl RambaZamba als auch Thikwa zusätzlich Förderanträge stellen. Und dennoch sind sie fest etabliert als die etwas andere Stimme in der freien Szene. Wie sonst nur das berühmte Blaumeier-Atelier in Bremen oder das Zürcher Theater Hora.
Es gibt ja in der deutschsprachigen inklusiven Theaterszene nach wie vor wenige Gruppen dieser Qualität und Größe. Dafür durchaus eine Vielzahl von Projekten. Erst unlängst war in den Sophiensälen eine ganz furiose, tänzerische Tschechow-Bearbeitung unter dem Titel „Schwestern“ zu sehen, an der unter anderem Nele Winkler (sonst bei RambaZamba beschäftigt) und ihre Mutter Angela Winkler beteiligt waren. Eine Produktion, die „Drei Schwestern“ schweben lässt und damit für sich steht. Behindertenbonus? Auf keinen Fall!
Es verwundert nicht, dass Gerd Hartmann und Nicole Hummel erzählen, Thikwa habe nie Schwierigkeiten, sogenannte normale Künstler für ihre Projekte zu gewinnen. „Aus der Begegnung entsteht etwas, das in einem monokulturellen Zusammenhang nicht möglich wäre“, so Hartmann. Dem kann Gisela Höhne nur zustimmen. Die Profis, die von außen kämen, beschrieben sämtlich, „wie sie durch die Sicht unserer Spieler aus ihrer Verkopftheit und den vorgedachten Wegen gebracht werden.“ Im besten Fall erkennen die Zuschauer diese Arbeiten als die Kunst, die sie sind. Statt nur ein Krankheitsbild sehen zu wollen.
Im Interview seien die Thikwa-Darsteller mal gefragt worden, erzählt Hummel, welche Behinderung sie eigentlich hätten. Die schlagfertige und einzig richtige Entgegnung: „Und welche haben Sie?“