Die Geburt der deutschen Nation: Dresden erinnert an den deutsch-französischen Krieg 1870/1871
Das Militärhistorische Museum Dresden wirft mit einer großen Ausstellung einen kritischen Blick auf den „Einigungskrieg“.
Am 19. Juli 1870 erklärte Frankreich Preußen den Krieg. 150 Jahre danach ist das Datum kein Gedenken mehr wert. Das erstaunt nicht, hat sich die kollektive Erinnerung in Deutschland doch ganz auf das 20. Jahrhundert mit Hitler-Reich und Zweitem Weltkrieg verengt. Doch das bundesrepublikanische Deutschland verdankt sich in vieler Hinsicht dem, was dem Krieg von 1870/71 folgte: dem Deutschen Kaiserreich, der kleindeutschen Lösung unter Ausschluss Österreichs.
Von der „Reichseinigung“ spricht niemand mehr. Dabei war sie ein, wenn nicht das deutsche Reizwort des 19. Jahrhunderts. Nach dem Umsturz aller Verhältnisse, den Napoleon angerichtet hatte, wurde immer deutlicher, dass die Frage gestellt, doch unbeantwortet geblieben war: wie sich die Deutschen – als die sie sich empfanden – politisch zusammenleben wollten.
Die bürgerlich-demokratische Antwort, die die Nationalversammlung von 1848/49 gegeben hatte, war von den reaktionären Kräften gewaltsam zunichte gemacht worden. Es blieb nur die Antwort „mit Feuer und Schwert“.
Dass der Krieg 1870 von Preußen provoziert wurde, ist müßig festzustellen; der Machtgegensatz zwischen einem erneut expansiven, auf der Krim und in Italien bereits kriegführenden Frankreich und dem gleichfalls expansiven Preußen hätte sich ohnehin weiter verschärft und wäre nach den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts nur durch einen „Waffengang“ zu klären gewesen.
Preußen hatte 1864 den Territorialkonflikt mit Dänemark kriegerisch gelöst, anschließend den Dualismus mit Österreich auf gleiche Weise bereinigt und die Habsburger-Monarchie, die doch jahrhundertlang die Kaiser des Alten Reiches gestellt hatte, kurzerhand aus Deutschland hinausgeworfen. Und nun?
Es ging um die Schaffung eines Nationalstaates
Nun stand eben die Reichseinigung auf der Tagesordnung; sie musste gegen Frankreichs Widerstand errungen werden. Es ist richtig, dass das Militärhistorische Museum Dresden seine Ausstellung zur 150-jährigen Wiederkehr des folgenreichsten der drei „Einigungskriege“ unter den Titel „Krieg. Macht. Nation. Wie das deutsche Kaiserreich entstand“ stellt.
Denn es ging in diesem Krieg eben nicht in erster Linie um territoriale Gewinne, wie in hunderten europäischen Kriegen zuvor, sondern um die Schaffung des Nationalstaates. Mit der Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Schloss Versailles war der politische Ertrag des Krieges besiegelt.
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Dass damit die Probleme geschaffen wurden, die 43 Jahre später in den nächsten, weitaus größeren Krieg mündeten, steht auf einem anderen Blatt; und dass die Einigung Deutschlands, wie es der junge Max Weber 1895 schneidig und schon im Rückblick formulierte, „ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte“, brachte das Dilemma des in seiner Mittellage gefangenen Reiches auf den Punkt.
Strikte Trennung der Feldzüge ist nicht möglich
Das sollte man im Hinterkopf behalten. Denn die Freude am historischen Objekt, die sich dem Besucher unwillkürlich mitteilt, wird verdüstert von der Kenntnis des Kommenden. War es unabwendbar?
Wohl kaum; schon die Sozialdemokraten, die damals am Anfang ihres politischen Aufstiegs standen, wandten sich „gegen Eroberungskrieg und ,Verpreußung‘“, wie es im vorzüglichen Katalog heißt.
Es sind dies die notwendigen gedanklichen Ergänzungen, die zum Material, zu den rund 500 Ausstellungsstücken hinzutreten müssen. Vier diagonal in die große Halle des Dresdner Gebäudes gestellte Gänge, von einer Innenarchitektur mit Schaukästen, Fotografien und Landkarten gesäumt, erzählen die Vorgeschichte seit 1849 und die drei Einigungskriege.
Eine strikte Trennung zwischen den Feldzügen ist nicht möglich, nicht anhand der Objekte; denn sie zeigen als Kontinuum die rasante Entwicklung der Waffentechnik, für die die Einführung der „Mitrailleuse“, der Urform des Maschinengewehrs, und die enorme Verbesserung und Verstärkung der Artillerie stehen.
Heldenmut und Soldatentod
Die Veränderungen, die die Aufrüstung, aber ebenso die rasche Ausbreitung des Eisenbahnwesens und der Telegraphie erbrachten und die der preußische Generalstabschef Moltke als erster erkannte, blieben in der öffentlichen Wahrnehmung unterbelichtet: Die Schlachtengemälde, die die Kuratoren Katja Protte und Gerhard Bauer ringsum an den Wänden platziert haben, feiern Heldenmut und -tod der Soldaten wie immer schon im Kampf Mann gegen Mann, aber nicht etwa die rasche Dislozierung der Truppen über strategische Bahnlinien.
[Militärhistorisches Museum Dresden, Olbrichtplatz 2, bis 31. Januar 2021. Katalog (Sandstein), 48 €. www.mhmbw.de]
Allein die Fotografie konnte die ungeschminkte Wirklichkeit zeigen; daraus ist Einiges in die Ausstellung eingewoben. Zugleich lief das Militär noch in altertümlich farbfrohen Uniformen herum, vor allem das französische, wo zudem nordafrikanische Kolonialtruppen für Kolorit sorgten, samt europäischen „Zuaven“.
Der Sieg brachte unerwartete Folgen
Selbstverständlich wollen die Kuratoren keine Kriegsverherrlichung. Großen Anteil am Ausstellungsmaterial haben daher Darstellungen der Verwundetenfürsorge, überhaupt der Einhegung des Krieges durch völkerrechtliche Bestimmungen und Maßnahmen. Nach der Ausrufung der französischen Republik gleich nach der vernichtenden Niederlage bei Sedan, bei der Napoleon III. in Kriegsgefangenschaft geriet – „Ab nach Kassel!“ –, wurde der Krieg enthemmt, mit Freischärlern und Vergeltungsmaßnahmen.
Damit rückt die innerfranzösische Entwicklung in den Blick. Sie zeigt eine unerwartete Folge des preußischen Sieges. Auf die Ausrufung der Republik folgte das Drama der Pariser Commune im Mai 1871, blutig niedergeschlagen von französischem Militär, doch unterm Schutz der Truppen Preußens und seiner süddeutschen Verbündeten – während in Frankfurt der offizielle Friedensschluss unterzeichnet wurde.
Elsass-Lothringen fiel an das neue Deutschland, das mit ihm nichts anzufangen wusste und ihm den beleidigenden Status eines „Reichslandes“ gab, ein teuer bezahlter Fehler.
Zeit der Verklärung
Es begann die Zeit der Kriegervereinigungen, der bierseligen Erinnerungen, für die die Ausstellung reiches Anschauungsmaterial bereithält und der Katalog einen seiner vorzüglichen Textbeiträge. Bierhumpen mit Deckel in Granatenform, darüber schüttelt man heute den Kopf; dabei war diese Gedenkkultur – nicht nur, aber auch – der Kitt, der die Nation zusammenführte.
Reliquien wurden in Ehren gehalten, wie die sächsische Regimentsfahne, deren Löcher von den Durchschüssen zeugen, die gleich fünf Fahnenträger niederstreckten. Ein Mädchen wurden nach dem Ort Gravelotte benannt; es erlangte als „Gravelottchen“ Bekanntheit. Denkmäler entstanden überall, kleine in jedem Dorf und große wie 1883 das Niederwalddenkmal. Man glaubte gern, was noch Jahrzehnte später am geschmückten Brandenburger Tor zum „Sedantag“ stand: „Welch eine Wendung durch Gottes Führung“.
Mit dem Verschwinden der Erinnerungsstücke ist die Erinnerung selbst verkümmert. Das hat sein Gutes, weil es den Weg für eine objektive Durchdringung des Themas ermöglicht hat. Vor drei Jahren zeigte bereits das Pariser Armeemuseum eine Ausstellung zum deutsch-französischen Krieg, die ganz ebenso ausgewogen und ungeachtet ihrer martialischen Objekte unkriegerisch war wie die jetzige in Dresden.
Es ist gut zu wissen, dass sich die Sicht auf den Krieg von vor 150 Jahren nicht mehr unterscheidet, egal ob westlich oder östlich des Rheins.
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