Harry Rowohlt wird 70: Drei Stunden Ewigkeit
Ein Wunder zarter Freundschaft und eisernen Taktgefühls: Dem einzigartigen Vorleser, Übersetzer und Autor Harry Rowohlt zum 70. Geburtstag.
Berlin, Januar 2012, über 20 Grad minus. Meine Frau Olga Martynova und ich werden vom Taxifahrer zum falschen Hotel gebracht und kommen mit Verspätung zum richtigen. Harry Rowohlt ist längst da, er verwechselt grundsätzlich keine Hotels. Die Besitzerin, eine dicke Rumänin, mit Kunstschmuck wie ein Christbaum behängt, ist empört, dass wir es gewagt haben, ihr Etablissement mit „dieser Kaschemme“ am anderen Ende der Straße zu verwechseln. Harry weiß von ihr schon fast alles, ihr ganzes Leben und mehr. Heute treten wir zusammen auf: Er liest aus meinem Roman „Die russische Fracht“, ich singe russische Ganoven-, Seemanns- und, gelegentlich, Zigeunerlieder. Was soll ich sonst tun, um nicht einfach so neben ihm zu sitzen und ihn unverschämt verliebt anzuschauen? Singen ist eine reine Verlegenheitslösung.
Wir laufen zum Veranstaltungsort, dem Festsaal Kreuzberg, die dünnen Sohlen kleben am vereisten Gehweg. Wir finden den Festsaal nicht und begreifen allmählich, dass wir uns verlaufen haben. Meine Frau fragt eine Passantin nach dem Weg: In der Tat, wir müssen zurück. Harry sagt vorwurfsvoll: „Olga, das war unsportlich!“ Das war der Beginn einer wunderbaren Lese- und Singreise, die das ganze Jahr 2012 und ein Stückchen des Jahres 2013 dauert. Von jeder Station könnte ich eine kleine Geschichte erzählen, und in jeder würde Harry Rowohlt im Mittelpunkt stehen.
In der arktischen Wüste der Universitätsstadt Göttingen, wo um viertel vor zehn abends in keinem Lokal mehr Essen serviert wird, kommt wie aus dem Nichts ein Mädchen zu Harry und bittet ihn um ein Autogramm. „Bitte“, sagt Harry und holt seinen Füller heraus. Das Mädchen klopft sich ab in der Suche nach etwas Papierenem und findet nur den Gutschein einer Ladenkette. Harry unterzeichnet ihn auf der Stelle.
Keine unserer Lesungen dauerte unter drei Stunden. Ich dachte zunächst, das sei wegen der doppelten Fracht (er liest, ich singe, und wir beide erzählen Anekdoten), dann war ich in einer seiner Sololesungen – sie dauerte genauso lange! Es ist schon unwahrscheinlich, wie sein Publikum in Deutschland, Österreich und der Schweiz ihn liebt. Noch unwahrscheinlicher ist aber, wie er sein Publikum liebt. Und auch wir beide, meine Frau und ich, sind ja Dein Publikum und lieben Dich, diesen Harry Rowohlt, den wir als ein Wunder zarter Freundschaft und eisernen Taktgefühls, der Aufmerksamkeit und unerschöpflicher menschlicher wie literarischer und schauspielerischer Begabung erleben.
Ab und zu träume ich, dass ich noch immer die Bühne mit Harry Rowohlt teile. Er liest, unterbricht sich, um eine Geschichte aus seinem oder einem anderen Leben zu erzählen. Ich singe und erzähle auch etwas. Wir lachen, dann gibt er ein Lied der deutschen revolutionären Matrosen zum Besten („Vorwärts, Kameraden …“) und ich eines von russischen Bürgerkriegs-Kinderkavalleristen, die in der ukrainische Steppe „für die Arbeiter“ sterben.Drei Stunden vergehen, vier, sieben … Wir lesen, singen und erzählen weiter. Vor Harrys Publikum, das sich nicht von den Stühlen rührt, und lauscht und lacht und weint. Vielleicht ist das die Ewigkeit, die ich als ewiges Glück durchgehen lassen würde.
Oleg Jurjew, 1959 in Leningrad geboren, lebt als Schriftsteller in Frankfurt/M. Bis 2013 schrieb er auf der Literaturseite des Tagesspiegels die Kolumne „Jurjews Klassiker“. Sein Roman „Die russische Fracht“, 2011 bei Suhrkamp erschienen, liegt, gelesen von Harry Rowohlt, bei Kein und Aber auch als ungekürztes Hörbuch vor.
Oleg Jurjew
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