Im Kino: "Manchester by the Sea": Die Zeit und die Wunden
Schwermütiger Realismus. Kenneth Lonergans berührendes, ernüchterndes Familiendrama „Manchester by the Sea“, mit einem herausragenden Casey Affleck in der Hauptrolle.
Die Filme von Kenneth Lonergan handeln von Menschen, deren Leben sich im Kreis dreht. Das setzt nicht einmal eine räumliche Enge voraus, die es in „Manchester by the Sea“ durchaus gibt. Lee Chandler (Casey Affleck) könnte als der starke, wortkarge Typ durchgehen, dessen allgemeines Verschwinden vor ein paar Jahren etwa nach den „ Sopranos“ beklagt wurde. Gleichzeitig wirkt er so ambitionslos, dass sein Hausmeistersjob gerade das Richtige für ihn zu sein scheint.
Der Film macht sich das gesamte Repertoire der präzise ausagierten Schlurfigkeit zunutze, die man von Casey Afflecks früheren Rollen kennt: verzögerte, leicht abrupte Körperdrehungen, sein schleppendes Sprechen, eine Gepresstheit, die mürrisch, linkisch und verschlagen, aber auch aggressiv wirken kann. Bei den Bewohnerinnen des Mietshauses lösen diese Eigenheiten gleichwohl sexuelle Fantasien aus.
Generationsunterschiede und sozioökonomische Spannungen
Aber kaum, dass man anfängt, sich für diesen Mann mit seinem gedämpften Naturell als Verkörperung einer in die Defensive geratenen Maskulinität zu interessieren, weitet sich die Erzählung und bezieht eine alte Familiengeschichte um den Bruder Joe (Kyle Chandler) und Lees Exfrau Randi (Michelle Williams) mit ein. „Manchester by the Sea“ entfaltet sich auf drei Zeitebenen, in einer Spanne von ungefähr sieben Jahren. So wird der verschlossene Held nach und nach mit einer Vorgeschichte ausgestattet.
Lee erhält die überraschende Nachricht, dass sein Bruder an einem Herzinfarkt gestorben ist – und plötzlich findet er sich in der Rolle des Vormunds für seinen Neffen wieder. Dieser ist mit 16 Jahren nicht mehr der kleine, nette Junge, mit dem er vor einigen Jahren noch zum Fischen aufs Meer gefahren ist. Inzwischen nervt Patrick (Lucas Hedges) mit einem überzogenen Ego, verhält sich rücksichtslos gegenüber seinen Freundinnen und versucht, seinen Onkel zu einer Art persönlichem Assistenten zu machen. Lee nimmt das mit einer Dickfelligkeit hin, die sein genervtes Unverständnis allerdings nie ganz verdecken kann. Ein offener Konflikt bricht nicht aus. Aber es wird doch deutlich, dass Verwandtschaft nicht nur Generationsunterschiede mit sich bringt, sondern auch sozioökonomische Spannungen.
Lonergan erzählt klar aus der Erwachsenenperspektive. Jugendliche Arroganz ist hier lediglich eine unvermeidliche Vorstufe auf dem gar nicht so langen Weg ins trostlose Alter. Man arbeitet, geht seinen Illusionen nach, lebt in der Falle beschränkter Lebenschancen, tut aber eine Zeit lang so – und manchmal auch das ganze Leben –, als stünde einem die Welt offen. In Lees Vergangenheit war das einmal ähnlich. Nur gab es bei ihm den einen unvorsichtigen Moment einer kurzen Freiheit, einer Unachtsamkeit, die eine fatale Kettenreaktion auslöste. Nach einer mit Freunden durchzechten Nacht brannte sein Haus ab, in den Flammen starben die beiden Kinder. Seine Frau verließ ihn, Schuld lastet auf Lee.
Die Tragödie erklärt die Schweigsamkeit dieses Mannes, die melancholische Grundstimmung einer unerbittlich verstreichenden Zeit, eines verfehlten Lebens. Der Tod seines Bruders bringt Lee zurück an den Ort der Ereignisse von damals, nach Manchester-by-the-Sea, einer kleinen Küstenstadt in Massachusetts. Die Zeit mag Wunden heilen, sie löscht aber nicht alle Erinnerungen aus. Auch ist die Aussöhnung ist nicht Lees Ding. Dass die Pflege von Eigenheiten die Geduld von Familien überfordern kann, bringt Gretchen Mol als Joes Witwe dabei brillant auf den Punkt. Irgendwann erinnert man sich aber, dass es früher so schlecht vielleicht doch nicht war – auch wenn diese Erkenntnis etwas spät kommt, wie Randi bei einer zufälligen Straßenbegegnung mit ihrem Ex-Mann Lee lernen muss.
Der Tod, der alles rahmt
Bei Lonergan läuft es meistens auf einfache, erbarmungslose Wahrheiten hinaus. Sein Realismus erweist sich diesmal als genauso schwermütig wie der Protagonist. Am Ende ist es ohnehin der Tod, der alles rahmt und einfärbt. Wobei Familiengeschichten dem amerikanischen Filmemacher, der seine Drehbücher stets selbst verfasst, als Speicher für das Unvorhergesehene dienen. Mit ihnen lassen sich diverse Formen des Zusammenlebens und falscher oder misslingender Bindungen erhellen, lässt sich über Fragen der Schuld und der Vorbestimmung nachdenken. Über Verantwortung, aber auch über die Bedeutungslosigkeit des Menschen, den in der elliptischen Desorientierung von „Manchester by the Sea“ schon ein Blick in die fahle, farblose Landschaft bezeugt.
Dieser im Grunde bescheidene und fast beiläufig wirkende Film, in dem es zudem noch sehr weiß, heterosexuell und kommunitaristisch zugeht, nimmt das Individuelle, Familiäre und Lokale in den Blick, sucht dabei aber immer das große Bild und die Verallgemeinerung. In „Manchester by the Sea“ lautet das Fazit ganz unchristlich: Auch im Leiden gibt es keine Erlösung.
Affleck hat gute Chancen auf den Oscar
Was Lonergans Erzählen epischen Glanz verleiht, ist gerade das, was dem jüngeren US-amerikanischen Independentkino gewöhnlich fehlt, da es dem Spezifischen der eigenen Generation zu sehr verhaftet bleibt. Das bravouröse Ensemble tut ein Übriges: vor allem Lucas Hedges’ unbekümmerte Überheblichkeit, Matthew Broderick als Christenfreak und natürlich Casey Affleck, der sich in diesem Jahr gute Chancen auf einen Oscar ausrechnen darf. Auch der Film hat gute Karten, bei den Oscarnominierungen am Dienstag dabei zu sein. Wäre nur nicht die Musik von Händel, die etwas billig über den Szenen ausgerollt wird.
Auch „Manchester by the Sea“ dreht sich am Ende im Kreis. Wie schon in Lonergans Regiedebüt „You Can Count on Me“ führt die Rückkehr in die Vergangenheit nicht zur Katharsis für den Protagonisten. Eine bittere Erkenntnis: Es gibt kein Zurück.
In 10 Berliner Kinos; OmU: Babylon Kreuzberg, Bundesplatz-Kino, Filmkunst 66, Kino in der Kulturbrauerei, FT am Friedrichshain OV: CineStar Sony Center, Rollberg. Das Kino Arsenal zeigt vom 21. bis 28. Januar die früheren Filme von Regisseur Kenneth Lonergan.
Manfred Hermes
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