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Führungsfigur: Eine Szene aus „König der Vagabunden“.
© Avant

„Berg der nackten Wahrheiten“ und „König der Vagabunden“: Die Würde der Gammler

Zwei neue Comics erzählen auf sehr unterschiedliche Weise von den alternativen Bewegungen zwischen Jahrhundertwende und NS-Machtergreifung.

Es wäre ein Leichtes, sich über die naiv, bisweilen aber auch preußisch streng wirkenden Anarchisten, Vegetarier und Nudisten lustig zu machen, die die beiden Comics über Gusto Gräser und den „Berg der nackten Wahrheiten“ (Jan Bachmann, Edition Moderne, 112 S., 24 €) sowie Gregor Gog, den „König der Vagabunden“ (Patrick Spät/Beatrice Davis, Avant, 160 S., 25 €), bevölkern.

Aber neben einer gelegentlich romantisierten antibürgerlichen Haltung zeichnen sich viele Protagonisten der alternativen Bewegungen zwischen Jahrhundertwende und NS-Machtergreifung durch einen modernen politischen Anspruch aus. Denn es geht immer auch um die ökonomische Not der Menschen und ihre strukturellen Ursachen. Um die Konsequenzen eines am Konsum orientierten Wirtschafts- und Lebensmodells. Und immer auch um Herrschaft.

Alternativer Wanderprediger: Eine Szene aus „Berg der nackten Wahrheiten“.
Alternativer Wanderprediger: Eine Szene aus „Berg der nackten Wahrheiten“.
© Edition Moderne

Das hat manchmal komische Züge, wie im Album „Berg der nackten Wahrheiten“ die pedantische Jagd auf den heimlichen Käse-Esser in der „vegetabilen Cooperative Monte Vérita“ nahe Ascona in der italienischsprachigen Schweiz.

Ohne ertragreiche Arbeit ist man hier von Mäzenen und Erbschaften abhängig, doch der leidenschaftliche Nackttänzer und Ziegenfreund Gräser antwortet auf die Kritik an seiner Faulheit: „Was bringt mir eine tragfähige Wirtschaft, in der ich nicht gammeln darf?“ An anderer Stelle ironisiert er die Planlosigkeit des Ganzen: „Wir arbeiten noch am Konzept“.

Als Matrose im ersten Weltkrieg anarchistisch politisiert

Gräser, später ein alternativer Wanderprediger, ist dann wohl auch unter denjenigen, die sich seinem früheren Zögling Gregor Gog entgegenstellen, als dieser die lockere „Bruderschaft der Vagabunden“ auf die KPD einschwören will.

Gog, als Matrose im ersten Weltkrieg anarchistisch politisiert, wurde durch seine Arbeit am ersten Straßenmagazin „Der Kunde“ und die Organisation eines großen Treffens der aus Freiheitsdrang oder Not herumziehenden Menschen 1929 in Stuttgart zur Führungsfigur.

Das Titelbild von „König der Vagabunden“.
Das Titelbild von „König der Vagabunden“.
© Avant

Bei einer Reise in die Sowjetunion wurden ihm wohl potemkinsche Dörfer einer harmonischen Gesellschaft präsentiert, aber es ist vor allem die Notwendigkeit des Widerstands gegen die Nazis, die ihn zum Kommunismus führt.

Hier aber folgen ihm die Vagabunden nicht; sie erkennen, dass auch dieses System sie industriell unterjochen und beschneiden will. Die größere Gefahr sehen sie indes nicht; viele landen, wie Gog, in Arbeitslagern und KZs.

Das Titelbild von „Berg der nackten Wahrheiten“.
Das Titelbild von „Berg der nackten Wahrheiten“.
© Edition Moderne

Die Comics gehen sehr unterschiedlich mit der Herausforderung eines authentischen, aber disparaten und unvollständigen Stoffes um.

Beatrice Davies und Patrick Spät wählen für „König der Vagabunden“ eine eher konventionelle Erzählweise, bisweilen sprachlich und optisch etwas steif, aber flüssig. Bachmann, dessen erster Comic-Held Erich Mühsam auch hier eine Rolle spielt, erinnert stilistisch an Joann Sfar und ist ästhetisch und inhaltlich fordernder.

Veranstaltungshinweis: Am 1. November laden die Bibliothek am Luisenbad und der Avant-verlag zur Buchpremiere der Graphic Novel »Der König der Vagabunden – Gregor Gog und seine Bruderschaft« ein. Bibliothek am Luisenbad, Badstraße 39, 13357 Berlin, Beginn um 20:00 Uhr. Eintritt frei. Die Zeichnerin Bea Davies und der Szenarist Patrick Spät stellen ihren neuen Comic vor und geben dabei Einblicke in die historischen Hintergründe, die Recherchearbeiten und die Entstehung des Scripts, Storyboards und schließlich der Reinzeichnungen. Durch den Abend führt die Journalistin und Comicexpertin Lilian Pithan. Im Anschluss sind ein Signiertisch und Umtrunk geplant.

Thomas Greven

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