Familienalbum aus Tusche und Bleistift: Comics aus Berlin - von Eltern gezeichnet
Familienerinnerungen mal anders: Berliner Mütter und Väter packen ihr Leben in Comics. Sie teilen Erfahrungen – und nehmen sich selbst auf den Arm.
Mit guten Ratschlägen überhäuft zu werden, ist wohl eines der eher zweifelhaften Privilegien einer werdenden Mutter. Doch ein Hinweis ließ die schwangere Künstlerin Beatrice Davies aufhorchen: Die ersten Jahre seien die intensivsten, sagen die anderen Eltern. Und sie vergehen wie im Flug. Davies beschließt, alles aufzuzeichnen – im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre Andenken schafft sie sich in Bildern aus Bleistift und Tusche. Zuerst sind es nur Skizzen, fast schon Anatomiestudien. Nach und nach entstehen daraus visuelle Anekdoten aus dem Familienalltag: Der Onlinecomic „Samurais visuelles Tagebuch“ ist geboren.
Heute ist Davies’ Sohn Samuel, alias „Samurai“, drei Jahre alt und ein Comicheld. Mit der bestechenden Logik, dem Anarchismus und den Waffen eines Kleinkindes (ein super elastischer Körper, ein unwiderstehlicher Charme und die Frage „Warum?“) fordert er seine Eltern heraus und rückt das Weltbild der Erwachsenen zurecht. „Kinder sind manchmal so brillant“, sagt die Künstlerin. „Als ich jünger war, war ich überzeugt, ich würde mich nie ändern. Heute merke ich, wie schwierig es ist, die Welt wieder mit den Augen eines Kindes zu sehen.“
Jeden Monat veröffentlicht Davies einen neuen Strip. Ihre Werke erinnern an Comicserien wie „Calvin & Hobbes“ und „Peanuts“. „Die meisten Geschichten sind lustig. Aber einige handeln auch von existenziellen Fragen. Das spiegelt eher wider, wie ich mich wirklich fühle“, sagt die 24-jährige Davies. Im Herbst beginnt sie ihr Studium der Visuellen Kommunikation an der Kunsthochschule in Weißensee. „Mir ist klar geworden, dass Comics das sind, was ich will.“
Davies ist nicht die einzige Berlinerin, die das Elterndasein im Comic dokumentiert. Auch Tagesspiegel-Zeichner Flix teilte in der Serie „Heldentage“ seine Vaterfreuden mit den Lesern. Eher politisch ist dagegen der Band „Mythos Mutti“ der Exberlinerin Ingrid Sabisch, die auch Themen wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder den alltäglichen Kampf gegen Rollenbilder sehr emotional aufgreift.
Mit dem Comic über das erste Date fing es an
Das Friedrichshainer Künstlerpärchen Anna Bas Backer und Nettmann plaudert schon seit 2012 im Blog „Familienjuwelen“ aus dem Nähkästchen. Im Wechsel teilen die beiden Autoren hier alle zwei Wochen liebevolle und hintersinnige Sticheleien in alle Richtungen aus – auch gerne mal gegen sich selbst. „Das Erziehen ist schwierig genug“, kommentiert Bas Backer ihre selbstironischen Comics. „Da ist es eine Erleichterung, darüber zu lachen.“ Die 33-jährige Holländerin lebt seit elf Jahren in Berlin. Seit sechs Jahren sind sie und Nettmann ein Paar. Mit einem Comic über das erste Date fing alles an. Irgendwann könnte aus den Comicstrips vom Travekiez ein Sammelband werden, meint Nettmann. Vielleicht will der Sohnemann ja sogar was beisteuern.
Beatrice Davies hat da weniger Hoffnung. Der kleine Samuel interessiere sich mehr für Naturwissenschaften als für die schönen Künste, erzählt die Mutter. Aber auch sie plant, die gesammelten Abenteuer ihres Sohnes irgendwann als ein Buch zu veröffentlichen. Momentan sammelt sie dafür online Spenden.
Doch wie ist das eigentlich, wenn fremde Menschen dabei zusehen können, wie das eigene Kind heranwächst? Davies sieht ihre Arbeit als eine Art Beitrag zu einer großen, internationalen Selbsthilfegruppe. „Gerade die jungen Eltern in Berlin machen sich viele Gedanken, was es heißt, gute Eltern zu sein“, beobachtet Davies. „Aber das ist nichts, das man aus einem Buch lernt. Man lernt durch die Erfahrungen der anderen“, glaubt sie. „Daher tut es gut, seine eigenen Gedanken und Gefühle teilen zu können.“
Davies sieht Parallelen zu den zahlreichen Elternblogs im Internet, die einen „großen Wandel“ herbeigeführt hätten. Früher war die Familie ein geschlossener Mikrokosmos: Was in ihm passierte, blieb drin. Heute ist das Private öffentlich wie nie zuvor. Für viele Eltern ist das eine Erleichterung. Sie müssen sich nicht mehr verstecken mit ihren Fragen und Sorgen. Denn mehr und mehr wird sichtbar: Anderen geht es genauso, auch bei ihnen fliegt Brei an die Zimmerdecke, auch bei ihnen werden Blumen aus dem Topf gerissen.
Kommt das Kind in die Schule, lichten sich die Reihen
Doch genau wie bei den zahllosen Elternblogs fällt auch in der Comicwelt auf: Sobald die Kinder ins Grundschulalter kommen, lichten sich die Reihen derer, die glauben, noch etwas zu erzählen zu haben. Ist das Abenteuer Elternschaft an diesem Punkt etwa schon durchgespielt? Anna Bas Backer hat eine Theorie für das Phänomen: „Entweder das Kind lernt sprechen und beschwert sich, oder es ist alles einfacher geworden.“
Für Ingrid Sabisch hingegen ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende erzählt. Nach der Geburt von Kind Nummer zwei hat sie auch schon wieder genug Material für einen neuen Band gesammelt. Der Titel „Mythos Mutti“ soll bleiben, denn er passe immer noch wie die Faust aufs Auge. „Die Leute sagen ja immer: Das zweite Kind läuft so mit – auch das stimmt nicht!“
Sabischs Erstgeborener findet den Comic über seine frühen Kindheitstage übrigens super. Für ihn sei das wie ein Familienalbum, sagt die Mutter. „Der blättert einmal im Monat darin und fragt: Wie war das denn damals?“
Mehr zum Thema Comics finden Sie unter www.tagesspiegel.de/comics.