Digitalarchiv Harald Hauswald: Die Wirklichkeit des Ostens
Punks, Hooligans, Künstler und normale Leute: Harald Hauswald ist mit seinen Fotos der Robert Frank vom Prenzlauer Berg. Jetzt wird Hauswalds einzigartige Sammlung digital archiviert.
Fast eine Viertelmillion Augenblicke sind es, die seit Wochen an Harald Hauswald vorüberziehen. Und manche dieser Momente sind satte vierzig Jahre her, andere dafür nur zwanzig, je nachdem. Lange grübeln, wann und wo er das Bild ungefähr aufgenommen hat, muss er trotzdem nicht. Wäre ja noch schöner, wenn nicht wenigstens ein Knipser wie er ein fotografisches Gedächtnis hätte.
„Das da ist Speiche. Und das da ist Peter Wawerzinek bei einer Ausstellung der AG Mauerstein in der Umweltbibliothek.“Das sind Infos, die man knapp 30 Jahre nach dem Untergang der DDR erstmal dechiffrieren muss. Peter Wawerzinek, der Schriftsteller, klar. Aber Speiche? „War einer der bekanntesten Punks von Ost-Berlin“, erklärt Hauswald, „und AG Mauerstein eine Künstlergruppe, die in der Umweltbibliothek ausgestellt hat.“
Wer in Ost-Berlin staatsfern, links, anarchisch oder sonst wie cool war, traf sich in den achtziger Jahren in der Umweltbibliothek der Zionskirchgemeinde in Mitte. Und Hauswald ist mit der Kamera immer mittenmang. Ein Chronist, der in seinen Aufnahmen von Künstlern, Oppositionellen, Alltagsszenen und Jugendkulturen wie Punks, Gruftis, Hooligans ein einzigartig facettenreiches Bild der schmucklosen Wirklichkeit der untergehenen DDR zeichnet.
230 000 seiner Fotos aus den Jahren 1976 bis 1995 hat der Ostkreuz-Verein für Fotografie in den letzten Monaten gereinigt und konservatorisch behandelt. Alle Negative wurden hier in den Räumen der von Hauswald mitgegründeten Agentur Ostkreuz in Weißensee digital abfotografiert und Archivlisten wurden angelegt. Die markierten Kontaktbögen lagern nun in speziellen Taschen und Schachteln. Der Fotograf liest Schlagworte vor: „Red Skins, Palast der Republik, Gasometer Thälmannpark.“
Der Stasi wegen hat er die Fotos nicht beschriftet
7500 Filme aus der Zeit lagerte Harald Hauswald zuvor bei sich zu Hause in Prenzlauer Berg. „Ich habe der Stasi wegen ja nie archiviert und die Bilder von Punkkonzerten und Wohnungslesungen bewusst nicht beschriftet.“
Zwölf Jahre observiert ihn die Staatssicherheit, veranstaltet immer wieder Hausdurchsuchungen, steckt als Druckmittel sogar für ein halbes Jahre seine Tochter ins Heim. Da empfiehlt es sich, eher wenig schriftlich festzuhalten.
Bei vielen Veranstaltungen habe er das Publikum bewusst ausgespart, sagt er. „Manchmal hatte ich Manschetten, überhaupt zu fotografieren.“ Als der 1954 in Radebeul geborene Hauswald 1977 nach Ost-Berlin zieht, schlägt ihm anfangs in der Subkultur auch Misstrauen entgegen. Die langen Hippie-Haare heben allerdings die Streetcredibility.
Und was man sich bei einem der wichtigsten zeitgenössischen deutschen Fotografen kaum noch (oder gerade) vorstellen kann: In der DDR hat Harald Hauswald Druckverbot. Sein intensiver, tragikomischer Blick, den man etwa im gerade wieder aufgelegten Klassiker „Ferner Osten. Die letzten Jahre der DDR“ (Lehmstedt Verlag Leipzig) sogar in Farbe eingefangen sehen kann, passt nicht ins sozialistische Ideal. Nur das evangelische Blatt „Die Kirche“ und die Kulturbund-Zeitung „Der Sonntag“ nehmen ihm Fotos ab. Dafür werden seine herausgeschmuggelten Bilder ab Mitte der achtziger Jahre regelmäßig im Westen gedruckt. In „GEO“, „Stern“, „Merian“ und „taz“.
Bei jedem Bild läuft in seinem Kopf ein Film ab
Hauswald sitzt schon wieder am Schreibtisch und streift per Mausklick durch die digitalisierten Motive, die er mit Angaben zu Ort, Zeit und gezeigten Menschen versieht. „Ach, das ist interessant. Eine Privataufführung bei Ulrike und Gerd Poppe.“ Die beiden Bürgerrechtler und späteren Politiker. 1981 oder 82 müsse das gewesen sein, vermutet er. „Oft kann ich die Entstehungszeit anhand des Alters der Kinder zuordnen, die im Bild sind.“ Er nennt die Namen, kennt die Orte. „Bei jedem Motiv läuft in meinem Kopf ein Film ab.“
Die Haare, die der Lakoniker an der Kamera wie im Leben, zum Zopf gebunden trägt, sind inzwischen so weißgrau wie der Bart. 65 ist er dieses Jahr geworden. Und das Projekt, das bis zum Ende des Jahres abgeschlossen sein soll, wird einen vielfältigen Nachhall haben. So wie die Wanderausstellung „Voll der Osten“ der Bundesstiftung Aufarbeitung, die seit vergangenem Jahr bestückt mit Fotos von Harald Hauswald durch Bildungseinrichtungen, Rathäuser und Kirchenfoyers im In- und Ausland tourt.
Die Stiftung Aufarbeitung ist es auch, die die Archivierung der Sammlung mit mit 200 000 Euro fördert. Für Ulrich Mählert, den Leiter des Arbeitsbereichs Wissenschaft ist Harald Hauswald nichts weniger als der Robert Frank vom Prenzlauer Berg. Ein Seelenverwandter jenes jüngst verstorbenen Jahrhundertfotografen also, der das USA-Bild geprägt hat.
Keiner kann mehr kommen und bessere Fotos machen
Da ist was dran, auch wenn dem Straßenfotografen Hauswald selbst alle Superlative fremd sind. Die Auswahl von 6000 Fotos, die als Essenz der Sammlung zukünftigen Generationen von der wirklichen Wirklichkeit des Ostens erzählen sollen, besorgt denn auch nicht er, sondern die Ostkreuz-Kollegin Ute Mahler. Sie gehört selbst zur Crème der künstlerischen Ost-Fotografie. Genau wie Werner Mahler, Sibylle Bergemann, Helga Paris, Arno Fischer oder Roger Melis.
Dass Harald Hauswalds Archiv allein durch das Spektrum der Jugendkulturen ein unschätzbares Stück Zeitgeschichte ist, betont Ulrich Mählert und spricht von einer „unverzichtbaren fotografischen Gegenüberlieferung zur offiziösen DDR-Fotografie“. Ohne Hauswalds Fotos könne der Alltag in der Ära Honecker gar nicht erzählt werden.
Der Fotograf selbst kommentiert den Wert seiner Arbeit eher dröge und steckt sich dazu eine der zahllosen Zigaretten seines Lebens an. „ Die DDR ist ein abgeschlossenes Sammelgebiet. Da kann keiner mehr kommen und bessere Bilder machen.“
Das Archiv steht Wissenschaft und Bildung kostenlos zur Verfügung
Nächstes Jahr kann sich die Öffentlichkeit dann selbst überzeugen. Im Juni zeigt C/O Berlin eine große Retrospektive, zu der auch ein Bildband mit bisher unveröffentlichten Fotos erscheint. Und die Bundesstiftung Aufarbeitung stellt das Archiv kostenlos für Wissenschaft und Bildung zur Verfügung. Wenn Kulturstaatsministerin Grütters ihr kürzlich angekündigtes Vorhaben wahr macht, ein nationales Archiv zur Bewahrung von Fotokunst „als bildhaftes Gedächtnis unserer Gesellschaft“ einzurichten, ist Hauswald gewiss ein heißer Aspirant.
Klick, Budapest 1989, klick, eine Kali-Halde bei Koswig 1984, klick, Fasching, klick, Karin aus Torgau. „Ach, da bin ich selbst mit drauf.“ Jung, schlaksig, bezopft. Dass sein Werk die Anerkennung der Archivierung erfährt, beglückt den Mann, der lieber Fotograf als Künstler genannt werden will, durchaus. „Nun kann ich beruhigt in die Kiste springen, weil ich der Nachwelt etwas von Wert hinterlasse.“ Zum Beispiel die eine Ahnung davon, wie es funktionieren kann, trotz des lähmenden Mehltaus der Unfreiheit sein eigenes Ding zu machen.