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Mundschutz mal anders: Momentan lesen sich die Menschen gegenseitig so aufmerksam wie sonst nur ihre Bücher. 
© nanihta / Photocase

Corona und die Literatur: Die Welt-Buch-Beziehung ist aus den Fugen

Wozu noch Bücher, wenn die Welt zum Roman wird? Wie das existenzielle Kuddelmuddel der Krise das Lesen verändert.

Meine Buchhändlerin, eine furchteinflößende Büchertrinkerin, bekannte beinahe zerknirscht, sie habe, seitdem Corona regiert, kaum das gewohnte Bücher-Quantum trinken können, sondern hätte an einem Jugendbuch tagelang nur genippt, mal hier ein Schlückchen und da ein Nipperchen, einfach schrecklich.

Stellen Sie sich das mal vor: ein Jugendbuch, nicht allzu schwer ... nur winzige Schlückchen ... tagelang. Sie ist übern Berg. Wer Augen hat, sieht und liest überall: Zwischen der Welt und den Büchern, zwischen den Lesern und ihren Lektüren ist etwas in Unordnung geraten. 

Vor den Häusern stehen übervolle Bücherkisten, die Menschen beginnen, ihre Bibliotheken zu ordnen (wahlweise nach Farbe, Autor, Fachgebiet, Größe, Sprache) und Bücherstaub fliegt aus Fenstern; zwar brechen die Buchumsätze ein, aber an jeder Straßenecke, in jedem Feuilleton lauern Büchertipps en gros.

Leser verlangen Lebenshilfe

Das Lesen, so heißt es, sei eine Bibliotherapie gegen die pandemische Hektik, andere jedoch meinen, sie sähen schon auf Wörtern Mundschutzmasken sitzen und könnten sich daher nicht auf den Sinn derselben konzentrieren. 

Das alte Eskapismus-Modell - wer liest, flieht in eine andere Welt - scheint außer Kraft gesetzt, seitdem sich die Welt selbst wie ein Buch anfühlt. Wenn die Welt ein Roman ist, wer braucht dann noch ein Buch?

Anderseits, sagt meine Buchhändlerin, strömen die Leser und verlangen Lebenshilfe- und Orientierungsstoff, das Buch als Kompass. Ihr Umsatz sei sogar gestiegen, „Die Pest“ von Camus verkaufe sich wie geschnitten Brot, auch Boccaccios „Decamerone“ werde nachgefragt, überhaupt fänden Bücher, in denen Menschen mit Seuchen oder lautlosen Gespenstern kämpfen, guten Absatz.

Fragt man Freunde und Bekannte heißt es, seitdem ich im Homeoffice lebe, komme ich nicht mehr zum Lesen, weil das Office das Home auffrisst und die Bücher vertreibt. 

Andere meinen, noch nie sei ihre Beziehung zu Büchern so innig gewesen, ja, die Buchstabenwelten fühlten sich verwandelt an, so als ob man wieder wie in Kindertagen mit Tolkien, Jules Verne oder Karl May in neue hochwillkommene Ungewissheiten aufbrechen könne. 

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Mancher steht vor dem Bücherregal und entdeckt im schattigsten Winkel das Buch seines Lebens, andere haben plötzlich das Bedürfnis, bestimmte Titel nur noch mit Handschuhen anzufassen und auszusortieren. Die Flut der Neuerscheinungen wirkt uralt, Alterscheinungen glänzen zukunftsfrisch.

Ich selbst entdecke all diese Modi in mir, die Ungeduld mit den Büchern, das Entstauben, Sichten, Ordnen, Verschenken, Wegbefördern, Entflammen und Verlieben. Obwohl verheiratet, entdecke ich mich grade als bibliophagen Polyamoristen, der zwischen der Welt, den Büchern, den Büchern in mir und den Welten in den Büchern neue Korrespondenzen entdeckt, fluide Pfade, auf denen man schwimmt, flaniert, dahintreibt, ums Überleben kämpft. 

Die Pandemie ist ein Autor oder auch nicht, sie ist eine Geschichte oder auch nicht und wir sind ihre Leser, ihre Autoren, ihre Gefangenen, ihre Bewohner, ihre Geschichten. Kurz und gut: Die Welt-Buch-Beziehung ist aus den Fugen!

Die Metapher der Welt als Buch oder als unendliche Bibliothek, wie Borges meinte, fasst das existenzielle Kuddelmuddel nicht mehr, in dem wir uns bewegen und empfinden. Stéphane Mallarmé, begierig, das Buch der Bücher zu schreiben, behauptete einst stolz: „Alles auf der Welt existiert nur, um im Buch zu münden.“

Neue Wege: Die Stadtbibliothek in Böblingen hat einen „Drive-In“-Schalter für Bücher in der Tiefgarage eingerichtet.
Neue Wege: Die Stadtbibliothek in Böblingen hat einen „Drive-In“-Schalter für Bücher in der Tiefgarage eingerichtet.
© Marijan Murat/dpa

Münden nicht auch alle Bücher in die Welt? Lassen sich die Entitäten wie Leser, Autor, Buch oder Welt überhaupt noch trennen? Nicht wenige Menschen fühlen sich grad verwandelt. Wer war ich, wer bin ich und wer darf ich sein? Schrieb mich jemand? 

Überschreibt mich jemand? Bin ich ein Palimpsest, ein abgeschabtes Schriftstück, oft und oft beschrieben, ausradiert und neu verfasst? Schreibt mich der Staat, die Seuche, die Zeit?

Im Feuilleton ruft mancher, die Pandemie sucht ihren Autor, erste Corona-Tagebücher werden auf den Markt geworfen, aber all das nimmt sich hilflos aus, weil die Pandemie selbst wie ein simultanes Werk ohne Ufer und Autor wirkt, wie ein Zustand, der allenfalls aktualisiert, aber nicht mehr erzählt werden kann. 

Die Virologen stammeln, als seien ihre Zungen in Blei gegossen, weil alle Welt von ihnen das Buch der Bücher, den allgewaltigen, den totalen Roman verlangt. Und mittendrin wir, allein und doch zusammen, atomisiert und doch kollektiviert, in tödlicher Nähe und lebensrettender Distanz.

Fast scheint es, als läsen sich die Menschen aufmerksamer als sonst, man studiert Bewegungsmuster, Gesichter, man wird zum Hermeneuten in der Warteschlange und versucht, den entglittenen Alltag zu lesen. Selbst Menschen, die wenig lesen, lesen plötzlich, auch wenn sie nicht zum Buch greifen, sondern zu Begegnungen.

Wer liest, geht fremd

Hier kommt, scheint mir, wieder das Buch ins Spiel, denn natürlich sind Bücher Schulungen der Empfindungsweisen und Empathie, und wer Marcel Prousts Romanwerk „Auf Suche nach der verlorenen Zeit“ gelesen hat, ist kein besserer Mensch, aber doch einer, der Hemmungen hat, das Lesen nur als neoliberales Fitnesstraining zu verstehen. 

Wer gerade jetzt zu Büchern greift, um ihnen instrumentelle Überlebenstechniken abzuringen, wird wohl den Sinn des Lesens verfehlen, wenngleich niemand mit Bestimmtheit sagen kann, was der alleinige Sinn und Zweck eines Buches ist.

Um noch einmal auf den bibliophagen Polyamoristen zurückzukommen: Lesen - dieser Vergleich drängt sich mir gerade jetzt auf - ist auch ein erotischer Akt. Wer liest, geht fremd. Wer liest, küsst Wörtern mitunter die Wange und schmiegt sich an ein narratives Fenster wie an eine Geliebte. Liest man nicht, um Beziehungen mit Wildfremden einzugehen? 

Um der Enge des codierten und determinierten Ich-Oberstübchens zu entgehen? Okay, ich hätte jetzt keine Geduld über tausende Seiten mit Charles Swann durch Prousts Romanwelt zu spazieren, aber ich entdecke gerade alte Buch-Bekannte wie Odo Marquard oder Theodor W. Adorno und bin fasziniert davon, wie ihre Gedanken zu Schlüsseln werden, mit denen ich für mich Gegenwartstüren öffnen kann.

Obwohl beide Philosophen eher Denkgegner waren, befreunden sie sich gerade in meinem Frontallappen, nicht nur weil sie als Schriftsteller Virtuosen des Fragments waren (passt gut in die Zersplitterung der Zeit), sondern auch weil der eine (Adorno) sich als Rebell gegen das vollendete Unheil verstand und der andere (Marquard) ein Rebell gegen allzu große politische und philosophische Menschheitszumutungen war. 

Mit diesen beiden Denk-Rivalen gewinne ich für mich Freiheitsmomente im Corona-Roman ohne Autor, der zugleich eine Augen- und Existenzschulung ist, denn es scheint ausgeschlossen, dass wir morgen noch leben wie gestern.

Sicher ist, dass wir lesen müssen oder lesen lernen müssen. Mit oder ohne Bücher. Ohne Bücher geht's vielleicht, aber nicht ohne Erzähler und Geschichten. Ohne Robert Walser und seine Kunst der irrwitzigen Sprachspaziergänge geht es nicht, und auch ohne Richard Brautigan und seine bombensicheren Sätze wird es nicht klappen. 

Auch Walser und Brautigan sind Artisten der Bescheidenheit, Virtuosen des Fragments, Anwälte der Mikrowelt. Eine typische Brautigan-Geschichte beginnt so: „Ich tu, was alle andern auch tun: Ich lebe in San Francisco.“ Rums, schon bin ich als Leser frei, weit weg und mittendrin in einer anderen Zeitschleife!

Das führt uns zu einem weiteren harten Cut: Walser, Adorno, Brautigan und Marquard, alle tot, gestorben in dieser Reihenfolge. 

Pandemie macht aus Fremden Freunde

Ich bin fast sicher, dass diese vier Namen niemals zuvor in einer Reihe, so dicht und überhaupt beisammen standen, quicklebendig also, und dieses Aufeinandertreffen des Lesens, Schreibens und Lebens begründet einen Brückenmoment, eine Lese-Gesellschaft, die möglicherweise nie zustande gekommen wäre, wären wir nicht eingesperrt und befreit in fremden Geschichten. 

Oder anders: Die Pandemie würfelt Fremde und Bücher zusammen, aus denen Freunde werden.

An das erste Wort, das ich lesen konnte, kann ich mich nicht erinnern. Ich frage meine Frau, ob sie noch ihr erstes Wort, ihr erstes Buch weiß. Es kommt wie aus der Pistole geschossen: „Bär!“ - „Warum weißt Du das noch so genau?“ - „Weil das Ä zwei Ohren hat wie der Bär und das B brummt!“ 

Wie schön, denke ich, in einem Wort steckt nicht nur ein Tier, sondern auch eine Erinnerung und die Fähigkeit, Zeichen miteinander so zu verbinden, dass sie Bilder sind, die zu Brücken werden können zwischen Menschen, Zeiten und Biografien. Wenn schon in einem Wort soviel Geschichte steckt, was muss dann in Büchern alles möglich sein?

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