Porträt eines Sehnsuchtsorts: "Die Vorstellung des Nordens hat kaum was mit Italien zu tun"
Thomas Steinfeld hat vor der Krise ein Porträt Italiens geschrieben. Ein Gespräch über falsche Bilder, europäischen Anpassungsdruck und Überleben unter Corona.
Herr Steinfeld, Ihr umfangreiches Porträt über Italien ist gerade in diesen Tagen erschienen, in einer sehr schwierigen Zeit für die ganze Welt, insbesondere für Italien. Wenn Sie noch die Möglichkeit hätten, das Buch um ein Kapitel über die jetzige Situation im Lande zu erweitern, wie wären Ihr Blick und Ihre Eindrücke zur "italianità" dieser Tage?
Ich würde vielleicht kein neues Kapitel schreiben aus Anlass der Corona-Epidemie: Im Buch ist von diesen Krisen die Rede, ausführlich. Aber ich würde die Reihe der Krisen um diese besonders große Katastrophe ergänzen. In der jüngeren Zeit ist Italien durch eine Reihe großer Krisen gegangen. Da waren die Erdbeben von 2009, 2012 und 2016. Da war die Finanzkrise, die im Jahr 2008 begann und deren Folgen in Italien immer noch deutlich spürbar sind. Da waren die Mafiakriege von 2004/2005, die Massenflucht über das Mittelmeer und noch etliche andere Ereignisse, die man nördlich der Alpen kaum wahrnahm. Die Corona-Epidemie, die Italien bislang härter trifft als jedes andere Land der Welt, scheint sich in eine lange Kette von Ereignissen zu fügen, die sich aus italienischer Perspektive als ein einziges großes Verhängnis darstellen muss.
Und wie reagiert diesmal das Land darauf?
Die Erfahrung hat nicht nur einen gewissen Stoizismus zur Folge, sondern auch, dass man mit Hoffnungen auf eine bessere Zukunft vorsichtig ist. Zugleich ist Italien ein altes Land mit oft erstaunlich konservativen sozialen Strukturen. Es ist ein sehr kleinteilig verfasstes Land, in denen die Bindung an die Familie und an die nähere Umgebung erstaunlich stabil bleiben.
Dieser Umstand – dass die Großeltern oft mit ihren Kindern und Enkeln in einem Familienverband leben – trägt jetzt zwar dazu bei, dass das Virus in Italien besonders heftig wütet. Aber er hilft den Überlebenden auch, diese Krise zu bestehen.
Ihr Italienporträt ist ja eigentlich ein persönliches Reisebuch. Was hat Sie dazu bewogen, über Ihre eigene “Grand Tour” zu schreiben?
Ich hatte den Eindruck, vielleicht, weil ich in Venedig wohnte, dass das Verhältnis zu Italien immer weiter verflacht: Italien war, über die vergangenen zweihundert Jahre hinweg, für Nordmenschen immer doppelt codiert: als Land der Bildung und der Kultur, und später als Land der Sinnlichkeit, der Sonne, der Lebensfreude.
Davon blieben vor allem Städtereisen, die sich auf wenige Orte konzentrieren, und eine diffuse, oft historisch inspirierte Schwärmerei. Das Buch entstand aus dem Bedürfnis, dieser Verflachung ein intellektuelles Reisebuch entgegenzusetzen, ein Buch, das nicht schwärmt, sondern exakt beschreibt und erklärt – und gleichzeitig den Zauber des Landes erhält.
Worin aber erscheint uns, sogar vielen Italienern, dieses Land plötzlich so fremd, immer fremder, trotz der Vertrautheit?
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert, seit Winckelmann, gibt es eine deutsche oder nordeuropäische Vorstellung von Italien, die nur bedingt etwas mit Italien zu tun hat, aber längst eine starke Tradition bildet. In den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren, hat sich, so mein Eindruck, dieses Auseinander eher verstärkt, und zwar vor allem durch die normierende Kraft, die vor allem von der Europäischen Union und dann vom Euro ausgeht. Es gibt einen immensen Druck auf Italien, es in dieser Beziehung den nordeuropäischen Ländern gleichzutun, und wenig Verständnis dafür, dass dieses Land anders ist und vielleicht sogar einen eigenen Weg in die Moderne gefunden hat.
Liegen die Ursachen dafür nicht etwa weit zurück in der Geschichte Italiens und in der Grundmentalität des "alles ändern um nichts zu ändern"?
Nicht nur. Vieles ist politische Ökonomie. Italien kann wenig dafür, dass anderswo größere Kapitalien mit größerer Durchschlagskraft aufgebaut wurden.
Sie schreiben von "einer sich immer wieder als ungebrochen darstellenden historischen Kontinuität, die sich in einzigartiger Weise über nunmehr dreitausend Jahre erstreckt". Wie meinen Sie das?
Nun, denken Sie an Deutschland: In den vergangenen Jahrhunderten gab es wenigstens zwei Ereignisse, die mit gigantischen Zerstörungen verbunden waren und das Leben in dieser Region von Grund auf veränderten: den Dreißigjährigen Krieg und den Zweiten Weltkrieg. Es gab zwar auch unzählige Kriege in Italien. Keiner aber entwickelte eine solche Kraft zu Vernichtung. Und die antike Kultur wurde etwa durch die Benediktiner bewahrt bis in die Renaissance hinein. Das meine ich mit Kontinuität.
Kontinuität gibt es aber auch, was die negativen Seiten des "Sistema Italia" betrifft: das nie überwundene Nord-Süd-Gefälle, die traurige Tradition der organisierten Mafien, die immer wieder gefährdeten demokratischen Prinzipien.
Die italienische Gesellschaft ist, weitaus mehr als etwa die deutsche, durch das Klientelwesen geprägt. Für dieses Klientelwesen gibt es Gründe, natürliche wie der zerklüftete Charakter der Geographie, historische wie das Leben unter den verschiedensten Besatzungsmächten und politische wie das Auseinander von Staat und katholischer Kirche. Dieses Klientelwesen ist deswegen nichts, was man abschaffen könnte.
Es ist da, und es hat schreckliche Seiten wie die Mafia, und starke Seiten wie die Freundlichkeit – denn man weiß ja nie, wozu man den anderen noch braucht, weshalb man erst einmal auf Vorschuss freundlich ist. Bei einigen Dingen, die oft einer spezifisch italienischen Unfähigkeit zur Organisation zugeschlagen werden, muss man vorsichtig sein.
Wann zum Beispiel?
Es ist offenbar so, dass die Differenz zwischen Norden und Süden immer weiter wächst. Es muss also sehr moderne Gründe dafür geben. Und es ist zum Beispiel so, dass der Norden weitaus fremdenfeindlicher ist als der Süden, wo die sozialen Kämpfe eher an territorialen denn an vermeintlichen ethnischen Grenzen entlang ausgetragen werden. Auch das ist nicht unbedingt "sistema italiano".
"L’arte dell’arrangiarsi", die Kunst irgendwie zurechtzukommen, darin bescheinigt sich Italien selbst Meisterschaft. Das beweist sich gerade wieder. Doch nachdem der Notfall vorbei ist, hat es der Italiener im “normalen Alltag” schwer, etwa mit einem erdrosselnden Steuersystem oder dreimal soviel bürokratischen Hürden wie in Deutschland….
Über das Klientelwesen haben wir ja schon gesprochen. Dazu gehört ein Verhältnis zum Staat, das diesen als Pfründe, nicht als Instanz der Gemeinsamkeit betrachtet. Und der italienische Staat ist relativ schwach, wozu im Übrigen die katholische Kirche in ihrer Gegnerschaft zum Staat historisch nicht wenig beitrug. Die Bürokratie ist ein Versuch, mit dieser Schwäche umzugehen, wobei auch das wieder dialektisch zu betrachten ist: Sehr viel Bürokratie hat zur Folge, dass sie nicht mehr allgemein durchzusetzen ist, was zur Folge hat, dass sich das Klientelwesen weiter entfaltet.
Bevor Sie bei einem Stadtbesuch von der wundersamen bella Italia erzählen, berichten Sie fast immer erst von der brutta Italia, von den hässlichen Seiten einer Stadt wie etwa über Rom oder Neapel.
Jeder, der nach Italien fährt, macht diese Erfahrung: Er kommt durch endlose Gewerbegebiete, durch Bereiche, in denen sich Industrie und Wohnbevölkerung mischen. Wer von Mailand nach Venedig fährt oder von Rom auf der Landstraße nach Neapel, sieht kaum etwas anderes. Ich hatte mir vorgenommen, Italien so zu beschreiben, wie es ist.
Und so ist Italien: viele Menschen, die in den schönen Innenstädten arbeiten, haben nicht das Geld, dort zu leben. Die Versorgung muss sichergestellt sein, die Fabriken und Werkstätten müssen irgendwo sein. Da sie nicht in den historischen Zentren sein können, konzentrieren sie sich anderswo.
Auch dafür gibt es Gründe, die man untersuchen kann: ein Steuersystem etwa, das Investitionen belohnt, während es zum Abräumen und Saubermachen nicht verpflichtet. Finden Sie nicht, dass man nirgendwo auf der Welt so viele verlassene Möbelgeschäfte, Diskotheken, Tankstellen, Fabriken und Fabrikruinen, Mülldeponien und Brachflächen sieht wie in Italien? Vermutlich ist das alles sogar geordnet. Aber diese Ordnung erschließt sich dem Besucher nicht.
Ihre Lieblingsstadt ist Venedig, in der Sie als Kulturkorrespondent 5 Jahre lang gelebt haben. Was ist noch von der "Kopie der Kopie der Kopie", wie Sie schreiben, übrig geblieben? Ist Venedig Symbol des Untergangs des ganzen Landes oder aber der wundersamen Überlebenskunst Italiens?
Venedig ist der wunderbarste Ort der Welt, und ich meine das buchstäblich. Zugleich ist Venedig ein Ort, der mittlerweile fast völlig im Dienst des Tourismus steht. Es gibt kaum noch etwas, was nicht in irgendeiner Weise dem Kaufen und Verkaufen unterworfen ist, und zumindest die Regionalpolitik ist damit völlig einverstanden. Es hätte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer wieder Möglichkeiten gegeben, dagegen etwas zu tun. Aber nichts ist passiert, abgesehen davon, dass das Vorhandene zerstört wurde. Ich fürchte, dass das so weitergehen wird: Venedig ist eine für unsereinen verlorene Stadt. Als wir Venedig verließen, waren wir also eher entnervt. Dabei gibt es vieles, was ich jetzt vermisse.
Noch einmal zur, scheint mir, Hauptthese, zum roten Faden, der sich durch das ganze Buch hindurchzieht: Italiens Gesellschaft bewahrt, konserviert sich also in ihrer Geschichte und Gegenwart?
Aus guten Gründen, denn es ist ja eigentlich kein plausibler Gedanke, dass die Zukunft irgendwie besser sein sollte als das, was Gegenwart und Vergangenheit zu bieten haben oder hatten. Daraus folgt vieles: ein lebendiger Umgang mit der Geschichte und ihren Hinterlassenschaften zum Beispiel. Man lebt damit, der Grad der Musealisierung ist geringer. Und eine Neigung zum Bewahren: Es hat ja immer etwas getaugt, warum sollten wir uns davon trennen? Je älter ich werde, desto mehr neige ich selbst zu solchen Anschauungen.
Ist diese Krisenzeit bei allem Übel auch eine Chance für Italien, obwohl es am schlimmsten getroffen ist?
Ich weiß es nicht. Lange Zeit habe ich gedacht, dass die meisten Italiener im Grunde doch überzeugte Europäer sind und dass sie auch am Euro festhalten werden. Ich bin mir da jetzt nicht mehr so sicher. Die sogenannten Eurobonds, also eine gemeinsame Haftung aller Staaten der Eurozone für die jetzt neu entstehenden Schulden, mögen eine allzu kühne Idee sein. Aber gleichzeitig offenbart die abweisende Haltung der Niederlande, aber auch Deutschlands, dass man sehr wenig von Italien verstanden hat. Dieses Auseinander füllt sich, so habe ich den Eindruck, jetzt sehr schnell mit bösen Ressentiments, und in einer instabilen Lage wie der gegenwärtigen liegt darin tatsächlich ein hohes Risiko. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass es in dieser Krise notwendig werden wird, zu Eurobonds überzugehen, also eine Art Haftung der reicheren für die ärmeren europäischen Staaten einzuführen, obwohl diese Bonds dann bestimmt nicht so heißen werden. Dann wäre Italien wieder näher an Deutschland und Frankreich gerückt, allerdings zu einem sehr hohen Preis.
Ein vielleicht chaotisches Italien, aber nach wie vor "unser allerliebstes Arkadien, ohne das wir nicht leben können", hat Enzensberger geschrieben….
So chaotisch finde ich Italien gar nicht. Im Gegenteil, das Land ist sehr geordnet, nur ist diese Ordnung von einer anderen Art. Man muss sie verstehen lernen.
Der letzte Satz Ihres Buchs lautet: "Italien ist ein schönes Land". Es ist, einschließlich der vielen kritischen Aspekte, die Sie gründlich unter die Lupe nehmen, letztendlich eine große - durchaus nicht romantische, manchmal sogar verzweifelte - Liebeserklärung an das Land.
Es ist tatsächlich so: In keiner Umgebung habe ich häufiger gedacht, als in Italien, dass ich an diesem und an keinem anderen Ort bleiben will, mein Leben lang. Auch diese Krise wird vorübergehen, so oder so, und ich hoffe sehr, dass ich dann wieder an diesen Ort – und an all die anderen italienischen Orte, an denen ich einen solchen Gedanken fasste – zurückkehren kann, und dass es dann wieder so ist. Ja, so soll es sein.
Thomas Steinfeld: Italien. Porträt eines fremden Landes. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 448 S., 25 €.
Elettra de Salvo