Premiere auf Netflix: Die Vietnam-Friedensbewegung auf der Anklagebank
Aaron Sorkins Gerichtsdrama "The Trial of the Chicago 7" erinnert an einen politischen Schauprozess Ende der Sechziger Jahre.
Räume sind in den Filmen von Aaron Sorkin Arenen; egal, ob er selbst Regie führt oder nur für das Drehbuch verantwortlich ist. In diesen Zentren der Macht werden Wortgefechte geführt, ein Schlagabtausch um die moralische Überlegenheit: im Weißen Haus („The West Wing“), in der Kommandozentrale eines Nachrichtensenders („The Newsroom“), im Gerichtssaal („Eine Frage der Ehre“). Die Sprache ist Waffe und eigentliche Performance, ballistisch dank Sorkins berühmter Walk-and-Talk-Sequenzen, die die Räume der Macht vermessen.
Der Prozess gegen die mutmaßlichen Initiatoren der Vietnamkriegs-Proteste während des demokratischen Parteitags 1968 in Chicago hätte Sorkins dramaturgische Bearbeitung eigentlich gar nicht mehr nötig. Das beteiligte Personal war in seinen politischen Ansichten so schillernd beziehungsweise in seinem Rechtsverständnis so empörend, dass die Verhandlung selbst einem traurigen Zirkus ähnelte.
In der Library of Congress befindet sich eine Gerichtszeichnung des Black-Panther-Aktivisten Bobby Seale, gefesselt und geknebelt: ein erschütterndes Dokument amerikanischer Rechtsprechung auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung und der Vietnam-Proteste. Seale hatte lediglich dagegen Einspruch erhoben, ohne Verteidiger vor Gericht zu stehen.
Montage aus historischem Nachrichtenmaterial
„The Trial of the Chicago 7“ ist erst Sorkins zweiter Spielfilm nach "Mollys Game" mit Jessica Chastain (und gleichzeitig sein Netflix-Debüt). Dabei könnte man eigentlich annehmen, dass niemand prädestinierter sei als der Meister selbst, diesen sprachgewaltigen Dialogen Dynamik zu verleihen. Doch das Dynamischste an seiner Rekonstruktion der Proteste 1968 und des Prozesses im Folgejahr ist noch die Eröffnungssequenz, in der Sorkin historisches Nachrichtenmaterial in hoher Taktung montiert.
Lyndon B. Johnsons Ankündigung, die Zahl der Truppen zu verdoppeln, und die Ermordung von Martin Luther King und Bobby Kennedy fungieren als Präludium für die Proteste, die Sorkin ähnlich wie schon 1969 Haskell Wexler in seinem New-Hollywood-Meilenstein „Medium Cool“ mit echten Aufnahmen von den Auseinandersetzungen mit der zunehmend gewalttätigeren Polizei anreichert.
Ansonsten hat Sorkin genug damit zu tun, den acht Angeklagten – später sieben, nachdem der Richter Julius Hoffman (Frank Langella) widerwillig der Forderung nachkommt, Bobby Seale (Yahya Abdul-Mateen II) einen eigenen Prozess zu geben – und den teils chaotischen Umständen der Verhandlung gerecht zu werden.
Ein politisch motivierter Prozess
Schon mit seiner inspirierten Besetzung macht Sorkin allerdings deutlich, wie politisch motiviert der Prozess war. Die adretten SDS-Sprecher Tom Hayden (Eddie Redmayne) und Rennie Davis (Alex Sharp), die sexuell befreiten „Yippies“ Abbie Hoffman und Jerry Rubin, von Sacha Baron Cohen und Jeremy Strong als erleuchtete LSD-Prankster im Geiste Ken Keseys gespielt, und der Vorzeige-Papa Dave Dellinger (John Carroll Lynch) mögen Ende der Sechziger ähnliche Ziele gehabt haben.
Aber ihre Methoden unterschieden sich so gravierend, dass eine gemeinsame Anklage wegen einer politischen Verschwörung leicht als Direktive aus dem Weißen Haus zu durchschauen war. Nach der Demission des damaligen Justizministers Ramsey Clark (ein kurzer prägnanter Auftritt von Michael Keaton) hatte Nixon-Gefolgsmann John Mitchell die Anklage forciert.
(Ab Freitag auf Netflix)
Und weil die Action in Gerichtsdramen nun mal überwiegend aus Sprechakten besteht, finden sich die Bonmots – zumal bei Sorkins überaus „demonstrativen“ Dialogen – eher in den Details. Wie geierhaft etwa Langella von der Richterkanzel herunterblickt und Verwarnungen wie Stockhiebe unter den ungezogenen Gören verteilt.
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Oder die Streitgespräche zwischen Cohen und Redmayne über den Sinn ziviler Proteste: Die Studentensprecher wollen bereits am großen Rad der Politik drehen (Hayden geht kurz darauf nach Washington und heiratet Jane Fonda), während Spaß-Guerillero Hoffman als politischer Stand-up-Comedian seine Anhänger daran erinnert, beim Marsch auf Chicago die Drogen nicht zu vergessen.
Plattform für Proteste gegen Krieg und Rassismus
Auf beiden Handlungsebenen trifft „The Trial of the Chicago 7“ aktuell einen Nerv. In den Straßen brüllen die Demonstrantinnen der Polizei „The whole world is watching“ entgegen: eine Erinnerung daran, dass der Parteitag der Demokraten 1968 ein Medienereignis war, das auch den Protesten gegen Krieg und Rassismus eine Plattform bot.
Der Prozess gegen die „Chicago Seven“ findet Resonanz in einem anderen politischen Schauprozess, von dem Sorkin noch nichts ahnen konnte: Gerade laufen in Washington die Anhörungen über die Neubesetzung am Obersten Gerichtshof, in denen die latente Bedrohung mitschwingt, ein mehrheitlich konservatives Gericht könnte die Justiz als verlängerten Arm der Exekutive stärken.
Auch hier muss sich Sorkin keine künstlerischen Freiheiten nehmen, Hoffman und Rubin haben diesen Punkt schon 1969 sehr pointiert gemacht. Als Cohen und Strong feixend in Roben zur Verhandlung erscheinen, fordert der Richter sie auf, die Verkleidung abzulegen. Unter den Roben kommen Polizeiuniformen zum Vorschein.
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