Der deutsche Urwald: "Die Vermessung der Welt" kommt ins Kino
Tiefe Blicke in 3-D: Detlef Buck hat Daniel Kehlmanns Bestseller „Die Vermessung der Welt“ verfilmt. Er gibt uns etwas vom Staunen der Forscher zurück.
Wenn Sie zur Minderheit gehören, die Daniel Kehlmanns Weltbestseller „Die Vermessung der Welt“ nicht kennt, so halten Sie an diesem Zustand fest, bis Sie den Film gesehen haben. Diese Reihenfolge ist besser. Sie mildert die Ungerechtigkeit, dass eine Romanverfilmung immer zu spät kommt, nämlich nach dem Roman. Solche Unannehmbarkeiten trieben schon den Mathematiker Carl Friedrich Gauß: Egal wann wir geboren werden, es ist immer zur falschen Zeit.
„Verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.“ Das sagt Gauß bereits auf Seite 3 des Kehlmannschen Romans, als er, von Alexander von Humboldt eingeladen, 1828 zu dessen Naturforscherkongress nach Berlin fährt, gegen seinen inneren Widerstand. Dreiviertel der Fahrt verbringt er mit Überlegungen der Art Ich-will-nach-Hause, der Rest ist Weltweisheit, sich entzündend am Alltäglichsten.
Welches Kino holt das Kino im Kopf ein, das entsteht, sobald der Mensch wirklich liest? Schon dieses erste Kapitel ist drehbuchreif, Buck hätte es nehmen und verfilmen können. Kamera weg von einem drehbuchreifen Roman, ließe sich sagen. Buck hat sich nicht daran gehalten. Und das hat er gut gemacht, sehr gut! Natürlich beginnt er anders. Nicht der alte Gauß, sondern der alte Humboldt, der Parallelweltvermesser, hat bei ihm seinen ersten Auftritt, an einem Ort, den die meinende Sprache nur beschwören, nicht aber zeigen kann: in der unendlichen Weite der asiatischen Steppe, dort, wo sich der Raum aufzulösen scheint im Unendlichen. In dieser durch und durch dreidimensionalen Steppe scheint Humboldt, der längst berühmte Naturforscher, wieder zu sein, was er in Wirklichkeit ist: ein Grashalm im Wind, knickbar.
Natürlich 3-D, denn Humboldt und Gauß vermessen Räume, Gauß mehr im Kopf, Humboldt mehr in der Realität, obwohl auch Gauß einst das Königreich Hannover vermessen hat, wofür er 25 Jahre brauchte. Das Raum-Sehen in 3-D hat etwas Künstliches, denn unser gewöhnlicher Blick besitzt nicht diese Tiefenwahrnehmung. Buck gibt uns etwas vom Sehen der Forscher zurück, egal, ob es wie bei Gauß mehr nach innen geht oder wie bei Humboldt mehr nach außen: etwas vom Wie-zum-ersten-Mal.
Aus den Weiten der asiatischen Steppe fallen wir in ein Halbdunkel, den Inbegriff eines geschlossenen Raumes, dessen Urbild die Zelle ist, der ummauerte Ort. Diese Zelle ist bei genauerem Hinsehen ein Schulraum: Willkommen in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts! Die Schulpflicht wurde gerade eingeführt und sie bedeutete zunächst die Unausweichlichkeit, staatlich sanktionierte Prügel zu empfangen. Dass Film und Buch sich auf Augenhöhe begegnen, zeigt sich spätestens hier.
Bei Kehlmann heißt es lapidar, der Lehrer habe der Klasse aufgetragen, alle Zahlen von eins bis hundert zusammenzuzählen. Ein Satz, mehr nicht. Buck macht daraus ein hochkomisches Charakterbild. Mit sadistischem Behagen schreibt Karl Markovics als Lehrer immer noch ein Plus an die Tafel, sich jedes Mal der langsam erfrierenden Mienen der Kinder vergewissernd.
Pointen sind Präszisionsfragen.
Die 3-D-Kamera ist ein erbarmungsloser Beobachter, ihrem mikroskopischen Blick entgeht nicht die kleinste Regung. Gauß und Humboldt waren Detailbessenene, und Genauigkeit war ihnen das halbe, ach was, das ganz Leben. Ist sie nicht auch das halbe, ja das ganze Kino? Pointen sind Präzisionsfragen, Buck weiß das genau, wie jeder Schauspieler.
Was für Kammerspiele im Panoramaformat, immer auf dem schmalen Grat der Groteske balancierend. Es sind lauter Übertreibungen zur Kenntlichkeit und darüber hinaus, denn dies ist ein Spiel mit der Künstlichkeit im künstlichen Raum. Großartig Michael Maertens als Herzog von Braunschweig, dessen ruinöses Gebiss ihm selbst nicht aufzufallen scheint. Das ist kein billiger Effekt, wie man argwöhnen dürfte, denn am Gebiss des Herzogs lässt sich viel über unser gewöhnliches Weltverhältnis lernen: Was wir vorfinden, scheint uns das Normale, das Unabänderliche. Das Gebiss des Herzogs, glaubt dieser, ist gottgegeben. Aber so wie der kleine Carl Friedrich Gauß in den offenen Mund des Landesvaters blickt, der das Arme-Leute-Kind fördern soll, scheint es des Zustands der Welt selbst ansichtig zu werden: Die Erde ist kein guter Aufenthaltsort für Genies. Und mit wem soll es hier reden?
Florian David Fitz gibt einem der größten Mathematiker der Menschheit die natürliche Überheblichkeit des Außerordentlichen, der die Wahrheiten dort auffindet, wo sie immer liegen und keiner bemerkt: vor den Füßen. Dieser verschrobene Charme wird zu berührender Hingabefähigkeit, als Gauß dem Mädchen begegnet, das er heiraten will, dem einzigen Menschen vielleicht, der ahnt, wer er ist. Vicky Krieps ist Johanna; sie rupft Gänse, aber sie ist keine Gans, was man schon daran erkennt, dass sie Gauß’ Vermutung, das Glück müsse ein Rechenfehler sein, sofort als das erkennt, was es ist: eine Liebeserklärung. Was für Bettszenen in 3-D!
Aber Alexander von Humboldt, die Humboldtschen Entdeckungen und der Chimborazo, der natürliche Kanal zwischen Amazonas und Orinoko, kurz die Tropen? Alles schön bunt. Ein Preuße im Urwald ist per se komisch; es dauert, bis man sich an Albrecht Abraham Schuch gewöhnt, aber dann gelingt das umso besser. Denn er stellt Humboldt nicht als Genie dar – die einzige Möglichkeit, sich selbst zu überstehen: Er kultiviert das Übersichhinauswachsen als Lebensform.
Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“ ist ein Roman in indirekter Rede, das macht seine Komik aus. Es gibt keine Filme in indirekter Rede. Wo Kehlmann nur ein wenig Grammatik nötig hatte, transportierte der Boje-Buck-Stab 15 Tonnen Material per Schiff nach Ecuador, drehte unter der Oberaufsicht von Slawomir Idziak („Black Hawk Down“, „Harry Potter“) mit mehreren Kameras gleichzeitig. Und das in 31 Tagen.
Trotz dieser Erdengewichte schafft es „Die Vermessung“ fast bis zur Schwerelosigkeit. Was die Weltenwechsel und Gleichzeitigkeiten betrifft, ist er der meinenden Sprache manchmal sogar überlegen. Von den Planetenbahnen bis in den Urwald von Ecuador ist es im Zweifel nur einen Kameraschwenk weit.
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