Klassik: Die Stürme des Lebens
... und die Sehnsucht nach Ruhe: Jan Philipp Glogers und Christian Thielemanns „Fliegender Holländer“ in Bayreuth. Samuel Youn als Ersatz für Evgeny Nikitin in der Rolle des Holländers macht seine Sache gut. Als die Premierengäste ihn am Ende in den langen, traditionell durch Fußgetrampel unterstützten Jubel für die gesamte Sängerriege einschließen, sinkt der Koreaner gerührt auf die Knie.
Regisseur Jan Philipp Gloger glaubt an die Liebe. Sogar an die von Senta und ihrem Fliegenden Holländer. Bei Richard Wagner können die beiden erst im Tode zusammenfinden. Denn der Untote hat mit anhören müssen, wie Sentas Jugendfreund Erik die Einlösung ihres ersten Heiratsversprechens einfordert. Den Holländer aber kann nur eine bedingungslos treue Ehefrau erlösen. Als er daraufhin sein Schiff in See stechen lässt, stürzt sich die junge Frau über eine Felsenklippe. So steht es im Libretto.
Am Mittwoch in Bayreuth schnallt sich Adrianne Pieczonka dagegen ihr Flügelpaar um, das sie aus Karton gebastelt hat, ergreift die Papp-Fackel, die sie im zweiten Aufzug wie Miss Liberty schwang, und verschmilzt mit dem Holländer in einer leidenschaftlichen Umarmung. Der Vorhang fällt, hektische Betriebsamkeit auf der Bühne des Festspielhauses, die Musik läuft weiter. Als aus dem unsichtbaren Orchestergraben die finale Erlösungsmelodie erklingt – an der Stelle, wo der Komponist notierte: „Das Meer türmt sich hoch auf und sinkt dann in einem Wirbel zurück, der Holländer und Senta, beide in verklärter Gestalt, entsteigen dem Meere“ – , gibt Gloger den Blick auf die Szene wieder frei. Daland macht ein Geschäft mit dem Opfertod seiner Tochter. Statt der Ventilatoren, die seine Mitarbeiterinnen zuvor im Akkord verpackten, legen sie nun Plastikpuppen in Versandkisten. Senta und der Holländer, in Apotheose-Pose, ein abwaschbarer Aufsatz für Hochzeitstorten.
Jan Philipp Gloger, der 31-jährige Regisseur, der auf dem Grünen Hügel seine erst dritte Oper realisiert hat, ist ein Theatermann, der hinhören kann. Zu Hause in Hagen spielte er im Posaunenchor des Christlichen Vereins Junger Männer gespielt, bevor er mit 19 im örtlichen Kulturzentrum sein Regiedebüt gab. Nach dem Studium bekam er schnell Aufträge von großen Häusern, vom Münchner Residenztheater, vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg, seit 2011 gehört er zum Leitungsteam des Mainzer Staatstheaters. Die Sänger loben seine Professionalität, die Sicherheit, mit der er Personen führt. Gerne lässt er Gesten von der Musik auslösen – oder er zieht überraschende Schlüsse aus dem Text. „Summ und brumm, du gutes Rädchen“, singt der Frauenchor im Hause Dalands, „munter, munter dreh dich um!“ Das lässt sich in der Tat auch als poetische Produktbeschreibung eines Ventilators lesen. Und so sieht man in Christof Hetzers unkonkret modernem Bühnenbild auch eine adrette Schar hellblau bekittelter Arbeiterinnen bei der Qualitätsprüfung und Verpackung von Luftquirlen (Kostüme: Karin Jud). Wo sich die Szene abspielt, bleibt bewusst unklar. Dem Regieteam geht es darum, den Berufsalltag in der globalisierten Warenwelt zu zeigen.
Haste was, biste was, lautet das Credo des vom Schiffsführer zum Wirtschaftskapitän mutierten Daland, den Franz-Josef Selig angemessen abstoßend als bauernschlauen, bräsigen Biedermann spielt. Aus dieser profitgierigen Welt wollen bei Gloger zwei Menschen ausbrechen: der steinreiche Fliegende Holländer – mithilfe der altmodischen Tugend Treue – und Senta, die sich daher zunächst den einzigen Mann ausgesucht hat, der hier nicht im Anzug herumläuft. Erik, den schmerbäuchigen Pferdeschwanzträger, der in Vaters Fabrik aushilft.
Schnell hat man Glogers entmystifizierenden Interpretationsansatz durchschaut – und blickt nun neidisch auf das Bühnenpersonal und seine Ventilatoren. In Bayreuth muss nun mal eben alles unbequem sein. Nicht nur die geografische Lage der Stadt, deren Abgelegenheit selbst Katharina Wagner jüngst beklagte, nicht nur die Enge in den weitgehend ungepolsterten Stuhlreihen. Nein, just zum Festspielstart bricht draußen der Hochsommer aus und die Besucher schwitzen im kaum gekühlten Festspielhaus.
Warum die Gemüter schon vor der Premiere erhitzt waren
Erhitzt wurden die Gemüter schon im Vorfeld der Premiere. Da war der Streit um die Vergabe der weiterhin enorm begehrten Eintrittskarten: Künftig kommen statt 40 Prozent nun 67 Prozent in den allgemein zugänglichen Verkauf. Da war die Rechnungshofrüge wegen des finanztechnischen Missmanagements, das nun wohl ein aus Köln abgeworbener Theaterverwaltungsfachmann beheben soll. Da war der Angriff des Münchner Opernchefs Nikolaus Bachler gegen die halsstarrige Haltung der Komponistenfamilie, wenn es um die Offenlegung von Archivmaterial geht. Von diesem Vorwurf sprechen sich die beiden Festspielleiterinnen selber frei, während andere Mitglieder der vier Wagner-„Stämme“ weiterhin brisante Briefe der antisemitischen Winifred und ihres Gatten Siegfried verschlossen halten. Kulturstaatsminister Bernd Neumann mahnte noch einmal die „besondere Verantwortung“ des Clans zur lückenlosen Aufarbeitung der NS-Zeit an. Hierzu gehöre die Zugänglichmachung aller Archive.
Und dann war da die „Causa Nikitin“, eine Enthüllungsgeschichte im wahrsten Wortsinn, bei der – inzwischen teilweise überstochene – Tattoos mit Nazi-Symbolen auf der Haut des russischen Sängers Evgeny Nikitin zutage traten. Vier Tage vor der Premiere bat der 38-Jährige, der die Titelrolle im „Holländer“ übernehmen sollte, um die Auflösung seines Vertrags. Die Hügel-Chefinnen ließen ihn kommentarlos ziehen, obwohl er derzeit weltweit als bester Darsteller der Rolle gilt und zudem der einzige wirkliche Besetzungs-Trumpf war, mit dem sie in diesem sonst überraschungsfreien Sommer hätte punkten können.
So muss also Samuel Youn ran, der eigentlich nur als „Cover“ für den Holländer engagiert worden war, als Notlösung also, der aber von Proben die Inszenierung kannte. Als die Premierengäste ihn am Ende in den langen, traditionell durch Fußgetrampel unterstützten Jubel für die gesamte Sängerriege einschließen, sinkt der Koreaner gerührt auf die Knie. Er hat sich achtbar geschlagen, szenisch wie vokal, einen Gentleman-Bassbariton präsentiert, eine große, weit tragende Stimme, der freilich alles Dämonische abgeht. Um so aufregender leuchtet der flammende Sopran von Adrianne Pieczonka, die im blutroten Kleid – natürlich, etwas anderes fällt Kostümbildnern bei selbstbestimmt handelnden Opernfrauen ja nie ein! – zur Spielmacherin des Abends wird. Rollendeckend unscheinbar bleibt Michael König als Erik, während Benjamin Bruns heller, belcantistisch geführter Tenor in der Nebenrolle des Steuermanns eine Entdeckung ist.
Dass es wirklich keinen besseren Wagner-Chor, kein besseres Wagner-Orchester gibt als die allsommerlich neu zusammengestellten Ensembles in Bayreuth, wie Christian Thielemann im Tagesspiegel-Interview schwärmte, beweist der Dirigent im „magischen Abgrund“ des Festspielhauses. Was für eine Klangpracht, was für ein Farbreichtum, welche animierende Lebendigkeit in jeder Wendung, jeder Volte, jeder atmosphärischen Schilderung! Aus Umsicht, aus kapellmeisterlicher Souveränität und demütigem, liebevollem Begleiten der Sänger entsteht ideales Musiktheater.
Als der Schlussjubel losbricht, springt überraschend ein junger Mann in Reihe 19 auf, bahnt sich im Dunkel den Weg zum Ausgang. Es ist Jan Philipp Gloger. Eingekeilt zwischen den Wagnerianern hat er seine eigene Inszenierung verfolgt – das macht er immer so, um zu sehen, wie das Publikum reagiert. Weitgehend zufrieden an diesem Abend, wenngleich es auch Buhrufer gibt. Mag sein Ansatz, Wagner mit dem Heute zu vernetzen, auch kurz gegriffen sein, wenn der Holländer mit Rollkoffer und coffee to go unterwegs ist. Gloger will nicht mit einer verkopften Analyse prunken oder das Stück in einer symbolistischen Bilderschwemme ertränken. Er will einfach nur die Liebesgeschichte erzählen. Von zwei Menschen, die so schlicht denken wie Richard Wagner es 1851 selbst formuliert hat: „Die Gestalt des ,Fliegenden Holländers’ ist das mythische Gedicht des Volkes; Ein uralter Zug des menschlichen Wesens spricht sich in ihm mit herzergreifender Gewalt aus. Dieser Zug ist, in seiner allgemeinsten Bedeutung, die Sehnsucht nach Ruhe aus Stürmen des Lebens.“
Frederik Hanssen