"Figaro" an der Berliner Staatsoper: Die (s)panische Liege
Staatsopern-Intendant Jürgen Flimm inszeniert Mozarts „Figaro“ im Berliner Schillertheater als federleichte Mittsommernachts-Sex-Komödie.
Ferien. Immer hat man zu wenig davon, und immer sind die nächsten noch viel zu weit entfernt. Darum wird jeder Urlaub schon im Vorfeld mit übertriebenen Erwartungen aufgeladen. Die schönsten Wochen des Jahres sollen es werden, unbeschwert, unheimlich toll, unvergesslich. Das muss ja in die Hose gehen.
Von so einer Sommerfrische erzählt Staatsopern-Intendant Jürgen Flimm in seiner Neuinszenierung von Mozarts „Le nozze di Figaro“. Es ist bereits die dritte Produktion, die der 74-jährige Regisseur verantwortet. In Zürich und Amsterdam hat er die Geschichte schon auf die Bühne gebracht, jeweils mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt. Im Charlottenburger Schillertheater ist nun Gustavo Dudamel sein musikalischer Partner.
Flimm verlegt die 1786 uraufgeführte „commedia per musica“ aus Sevilla, der Opernstadt schlechthin („Carmen“! „Fidelio“!) an die Costa del Sol: Das Ehepaar Graf, das schon ziemlich lange miteinander verheiratet ist, hat ein paar Freunde in ihr Strandhaus eingeladen. Figaro und Susanna sind dabei, die kurz vor ihrer Hochzeit stehen, ein ebenso eitler wie erfolgloser Musiker namens Basilio, der frühreife Teenager Cherubino, außerdem Marcellina und Bartolo, zwei alte Bekannte der Gastgeber. Den Grafs geht es wirtschaftlich gut, sie leisten sich jede Menge Personal. Dass an den hohen Türen und den Lamellen-Fensterläden ihres Feriendomizils in direkter Dünenlage hier und da die Farbe abblättert, finden sie charmant, weil es dem herrschaftlichen Anwesen Patina gibt (Bühnenbild: Magdalena Gut). Ein Ort also, an dem man auch gerne eingeladen wäre.
Filmm erzählt die Story als modernen Geschlechterkampf
Eigentlich ist der „Figaro“ eine Klassenkampf-Komödie, bei der die Dienerschaft über einen egomanen Adligen triumphiert. Zur Uraufführungszeit – drei Jahre vor dem Sturm auf die Bastille – ein Werk von revolutionärer Sprengkraft. Und obwohl die britische TV-Serie „Downton Abbey“ gerade unter Beweis stellt, wie spannend so ein Upstairs-Downstairs-Plot für heutige Zuschauer sein kann, betrachten Jürgen Flimm und seine Regie-Mitarbeiterin Gudrun Hartmann die Geschichte lieber aus moderner Perspektive, erzählen von einem erotischen Ringen der Geschlechter, bei dem sich die Antagonisten auf Augenhöhe begegnen.
Dass die Story optisch in den späten dreißiger Jahren ansiedelt wird, ist da eigentlich widersinnig – sieht aber toll aus. Denn Ursula Kudrna hat herrliche Kostüme geschaffen, die an Filme wie „Die Drei von der Tankstelle“ erinnern oder an „Der blaue Engel“. Wenn die Urlaubsgesellschaft während der Ouvertüre durch eine der Parkett-Türen hereinkommt und mit Unmengen von Koffern über den Laufsteg, der sich um den Orchestergraben windet, dem Ferienhaus zustrebt, dann ist das die reinste Retro- Modenschau.
Herr Graf, der sein Automobil selber steuert, trägt zum weißen Pullunder eine Lederkappe mit Rennfahrerbrille, Frau Graf mixt – im taillierten Bolerojäckchen zu Pluderhosen – spanische Tradition mit emanzipierter Avantgarde. Figaro hat Knickerbocker gewählt, Basilio einen gewagten gestreiften Cut. Am besten aber kommen bei Ursula Kudrna Marcellina und Bartolo weg, zwei Buffo-Charaktere, die Opernfans aus Rossinis „Barbier von Sevilla“ kennen und die sich im Laufe des Stücks als Figaros Eltern herausstellen. Normalerweise werden sie als trottelige Alte kostümiert. Hier aber dürfen sie Großstadtmenschen sein, er im Dernier- Cri-Karoanzug, sie mit Bob-Frisur und weiten Marlene-Hosen. Katharina Kammerloher und Otto Katzameier wissen diese urbanen Outfits ebenso mit Stil zu tragen, wie sie ihren Figuren schauspielerisch Statur verleihen.
In diesem eleganten, mediterranen Ambiente lässt Jürgen Flimm also nun mit der Handwerkskunst des erfahrenen Schauspielregisseurs die Emotionen hochkochen – wobei ein vielseitig nutzbarer Schrankkoffer sowie eine tückische Sonnenliege tragende Rollen spielen.
Schwellkörper regen sich, die Vernunft verdampft
Die gefühlte Temperatur liegt bei 37,2 Grad am Morgen und die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Hier denken alle nur ans Vögeln. Draußen wehen linde Lüfte, drinnen fühlt jeder die innere Hitze aufsteigen. Je goldener das südliche Licht durch die Jalousien sickert, desto eifersüchtiger werden die Blicke. Schwellkörper regen sich, die Vernunft verdampft. Vor allem Ildebrando d’Arcangelo steigert sich als Graf hinreißend in den libidinösen Testosterontaumel hinein, stolpert von einer peinlichen Situation in die nächste, als hätte er gerade ein Slapstick-Seminar bei Herbert Fritsch besucht – und lässt dank seines markant- männlichen, charaktervoll geführten Bassbaritons den schamlosen Schürzenjäger dann doch nicht vollends zur Witzfigur absinken.
Tiefernst in ihrem pubertären Verlangen dagegen glüht Marianne Crebassas Cherubino. Anna Prohaskas patente Susanna wiederum ist die Einzige, die in diesem hitzigen Durcheinander kühlen Kopf bewahrt. Erst im Finalakt, wenn sie die amourösen Intrigen zu ihren Gunsten entschieden hat, öffnet Anna Prohaska ihr Herz ganz weit, flutet den Saal in der „Rosenarie“ mit ehrlicher, ehelicher Zärtlichkeit für ihren Figaro – der bei Lauri Vasar auch tatsächlich ein herzensguter, wenn gleich reichlich naiver Kerl ist.
Dorothea Röschmann hatte 1995 ihren internationalen Durchbruch als Susanna bei den Salzburger Festspielen, und auch an der Lindenoper wurde sie viele, viele Male in dieser Rolle gefeiert. Mittlerweile ist sie zur Gräfin gereift. Für die Partie geht sie an die Grenzen ihres lyrischen Soprans – doch was zählen gelegentliche stimmliche Härten angesichts der Glaubwürdigkeit, der musikdramatischen Kraft, mit der Dorothea Röschmann zur großen Liebenden wird.
Gustavo Dudamel begnügt sich mit der Rolle des Begleiters
Nur einer bleibt erstaunlich unauffällig an diesem Premierensamstag: Dirigent Gustavo Dudamel. Seine Tempi sind zügig, er hält die Musik im steten Fluss, koordiniert das Geschehen zielführend in den Ensembles. Ein zuvorkommender Begleiter der Sänger, ein demütiger Diener der Partitur. Das ist ehrenhaft. Doch der eine oder andere eigene Akzent hätte nicht geschadet. Selbst die „schönen“ Orchesterstellen, von denen es im „Figaro“ nun wahrlich genug gibt, leuchten nie heraus, das enorme klangliche Potenzial der Staatskapelle bleibt ungenutzt.
Und dann ist der Urlaub plötzlich zu Ende. Altersmilde hat Jürgen Flimm den letzten Akt inszeniert, im wabernden Nebel kraxelt das hormongesteuerte Personal dieser Mittsommernachts-Sex-Komödie auf der täuschend echt aussehenden Düne herum, spielt Haschen zwischen Strandhafer und gestreifter Badekabine. Doch keiner wird hier keine vernaschen. Die Regie führt die rechtmäßig angetrauten Paare zusammen, das Personal schleppt die Koffer heran, beim Happyend wird abgeblend’t.
Dreieinhalb Stunden Alltagsflucht sind vorbei. In der Erinnerung wird diese so hübsch anzusehende, federleichte Inszenierung schnell verfliegen, wie ein sommerlicher Ferienflirt.
Arte überträgt die „Figaro“-Produktion am 13. November live ab 20.15 Uhr.