Polen in Berlin: Integration beginnt bei Frau Düser in Charlottenburg
Aus keinem anderen Staat wandern mehr Menschen ein. Doch in Deutschland fallen Polen kaum auf. Deswegen fängt, wer etwas über sie erfahren will, in Dzidka Düsers Laden an. Vom Kunststück, sich zu integrieren – ohne sich zu verlieren.
Ein älterer Herr kommt durch die Glastür. Im feinsten Hochdeutsch fragt er nach Krakauern. Er habe sehr leckere in Hannover gegessen. Dzidka Düser, eine Mittvierzigerin, die aussieht wie Ende zwanzig, steht in roter Schürze und mit roten Lippen in ihrem polnischen Lebensmittelladen „Pod Kogutem“ und erklärt dem Mann, dass die Würste, die in Deutschland als Krakauer bekannt sind, eigentlich keine richtigen Krakauer sind. Echte Krakauer, sagt Düser, sei Wurst aus ganzen Fleischstücken, die kalt zu Brot gegessen werde. Dem Herrn ist das egal. Er möchte die aus Hannover.
Wie jeden Morgen hat Dzidka Düser Kohlrouladen, Pierogi und Kartoffelsalat in großen Porzellanschüsseln nebeneinander in die Kühltheke gestellt. Sie hat das Licht eingeschaltet, sodass die Neonröhren in ihrem kleinen Charlottenburger Laden nun auf Polen strahlen. Das Polen, das sie hier verkauft. Oder das Polen, das ihre Kunden kaufen möchten.
Unter die Decke ihres Ladens hat Dzidka Düser einen großen, runden Leuchter aus geschliffenem Glas gehängt. Damit es modern aussieht, sagt sie. Sie wolle zeigen, dass Polen nicht mehr so zurückgeblieben sei wie früher. Sie wolle bei ihren deutschen Kunden Verständnis für Polen schaffen.
Viele von denen seien überrascht von der polnischen Küche, sagt Dzidka Düser. Dass sie ihre Lebensmittel aus Polen importiert, irritiere viele. „Ist das nicht schrecklich weit weg?“
„Nein“, antwortet Düser dann. Zwei, drei Autostunden, so lange brauchen ihre Lieferanten, die täglich Torten, Würste und andere Waren bringen. Warum sie nicht einfach in Deutschland einkauft? Polnische Lebensmittel schmeckten anders, die Würste seien würziger, Kuchen und Torten süßer.
Deutschland, ein Sehnsuchtsort
Dass ihre deutschen Kunden so wenig von Polen wissen, liegt vielleicht an der Geschichte der beiden Länder. Erst verheerte der Zweite Weltkrieg die Beziehungen, dann verlängerte der Eiserne Vorhang jahrzehntelang den Weg nach Polen ins fast Unendliche. Und obwohl die Grenzen seit 26 Jahren offen sind und Polen seit 2004 Mitglied der EU ist, wirkt diese Zeit bis heute nach. Die Deutschen orientieren sich nach Westeuropa. Frankreich und Italien liegen gefühlt näher. Auch politisch ist die Lage wieder heikel. Seit die neue rechts-konservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) in Polen an der Macht ist, gehen die Polen auf Abstand zur EU und zu Deutschland. Und so ist die Tür zu Dzidka Düsers Laden auch eine Tür in eine Kultur, deren Fremdheit sich nicht in realen Kilometerangaben bemisst.
Als Dzidka Düser vor elf Jahren ihren polnischen Laden eröffnete, gab es nur wenige solcher Geschäfte. Viel zu wenige für all die Polen, die damals schon in Berlin lebten. Für viele von ihnen ist Deutschland ein Sehnsuchtsort, geschätzt 1,5 bis 2 Millionen Menschen mit polnischem Migrationshintergrund leben mittlerweile in der Bundesrepublik. Seit 1996 kommen aus keinem Staat mehr Einwanderer nach Deutschland als aus Polen. Im Jahr 2014 waren es fast 200.000 Menschen. Doch während über Migranten aus Rumänien, Bulgarien, der Türkei oder arabischen Staaten so erbittert gestritten wird, fallen die meisten Polen in Deutschland kaum auf. Sie gelten als fast bis zur Unsichtbarkeit integriert.
Von „den Polen“ zu sprechen, sei überdies schwer, sagt Oliver Loew. Zu verschieden seien die Lebensentwürfe. Oliver Loew ist Historiker und stellvertretender Direktor des Deutschen Polen Instituts in Darmstadt. Erst kürzlich hat er ein Buch über die Polen geschrieben, es heißt: „Wir Unsichtbaren“. Er sagt: „Alle Polen in Deutschland bewegen sich irgendwo zwischen ,ganz polnisch‘ und ,ganz deutsch‘. Das Einzige, was alle verbindet, sind meistens die Sprache und die Erinnerung an die Herkunft aus Polen.“ Deshalb fängt, wer etwas über die Polen erfahren will, am besten bei Dzidka Düser in ihrem Laden an – einer inoffiziellen polnischen Botschaft, nur wenige Meter vom Kurfürstendamm entfernt.
Dzidka Düser kam 1993 nach Berlin. „Unvermeidbar“, sagt sie heute
Ein Herr mit grauem Schnauzer schiebt sich durch die Glastür des Ladens und geht an den Regalen mit polnischen Konserven vorbei zur Theke. Vor 30 Jahren aus Polen nach Berlin gezogen, kauft er fast jeden Tag hier ein. Heute hat ihn seine Frau hergeschickt, um Nussbrot zu holen. „Die isst das wie Kuchen“, sagt er. Düser und er unterhalten sich lange auf Polnisch. Sie lacht oft, wenn sie mit ihren Kunden redet – die sollen sich hier wie zu Hause in Polen fühlen. Für die Länge eines Einkaufs zumindest.
Dzidka Düser kam 1993 nach Berlin. „Unvermeidbar“, sagt sie heute. Als sie noch ein Kind war, arbeitete ihr Vater als Monteur im Westteil der Stadt. Wochenendheimat in Breslau, in der sozialistischen Volksrepublik, Geldverdienen im Kapitalismus. An den Wochenenden erzählte er davon. Drei Jahre nach der Wiedervereinigung verließ Düser Polen. „Ich wollte immer nach Berlin“, sagt sie.
Noch heute spricht sie über die Stadt wie ein staunendes Kind: große Augen, offener Mund. Berlin ist ihr Märchen, immer noch der Geruch von Nuss-Schokolade und runden Kaugummis, die ihr Vater ihr damals mitbrachte. Und obwohl sie seit 23 Jahren an ihrem Sehnsuchtsort lebt, ist sie Polin geblieben. Nicht nur wegen des Geschäfts. Ihre Staatsbürgerschaft aufzugeben, sei für sie nie infrage gekommen. Dem Leben in Berlin passt sie sich dennoch an. „Weder durchsichtig, noch Flaggenträger“, so nennt sie das.
Für viele frisch Zugezogene ist sie die Anlaufstelle
Dem Nächsten, der in ihren Laden kommt, macht Dzidka Düser erst einmal einen Kaffee. Der Mann heißt Darek und lebt seit zwei Jahren in Berlin, spricht aber kaum Deutsch. Weil er schwul ist, ging Darek fort aus dem katholischen und konservativen Polen, wo er es irgendwann nicht mehr aushielt. Seit er hier ist, besucht er Düsers Laden. Er kommt für die Erinnerung, aber er kommt auch wegen Düsers Kontakten.
Für viele der frisch Zugezogenen ist Dzidka Düser die Anlaufstelle. Ganz unten in ihrem Zeitschriftenregal liegen polnische Umsonst-Magazine. Sie heißen „Kontakty“ und „Polonia Berlin“ und sind voller Anzeigen. Anwälte bieten da ihre Dienste an, Bürogemeinschaften Plätze. Polnische Immobilienmakler und Automechaniker werben für ihre Unternehmen. Unter ihrer Theke liegen Flyer. Manche ihrer Kunden kommen nur deswegen. Viele Adressen kann sie auswendig, so oft hat sie sie an andere Polen weitergegeben. Man könne sich durch Berlin bewegen, ohne deutsch sprechen zu müssen, erzählt Dzidka Düser. Wenn man das will.
Seit einiger Zeit kommen auch immer wieder Kunden in ihren Laden, die über Politik reden wollen. Über den Wahlsieg der Nationalkonservativen und das angespannte deutsch-polnische Verhältnis seitdem. PiS hat mit einer Reform faktisch die Kontrolle über das Verfassungsgericht übernommen, was das Gericht am Mittwoch seinerseits für verfassungswidrig erklärte. Auch die polnischen Medien sollen nach Willen der PiS national ausgerichtet werden. Deutsche Journalisten und Politiker schauen besorgt ins Nachbarland, kritisieren die Angriffe auf Demokratie und Rechtsstaat. Polnische Politiker und Medien halten dagegen, sprechen von Bevormundung.
Eine der letzten Hochburgen der katholischen Kirche
Die Meinungen von Dzidka Düsers Kunden gehen da weit auseinander. „Wenn man zehn Polen zu Politik befragt, bekommt man zehn verschiedene Ansichten.“ Potenzial für Streitereien gäbe es also genug. Dzidka unterbricht sie immer. Ihr Laden ist politikfreie Zone. Auch wie sie selbst darüber denkt, will sie nicht sagen. Zu viele Fronten.
Als sie neulich Angela Merkel in Naziuniform auf einem Zeitschriften-Cover sah, ließ Dzidka Düser es unter der Ladentheke liegen. „Sie wollen Polen wieder kontrollieren“, hatte das polnische Magazin „Wprost“ getitelt, Merkels Kopf auf den Körper von Adolf Hitler montiert. Provokation pur. Normalerweise stellt Dzidka Düser alle Zeitungen in den Zeitschriftenständer rechts neben der Ladentür. „Das konnte ich nicht“, sagt sie. Sie entschied: Es war zu viel.
Das, was vielen Polen gemein ist, ist ihr tiefer Glaube. Polen ist eine der letzten Hochburgen der katholischen Kirche in Europa. Die polnische Mission in Berlin ist deshalb auch eine der aktivsten Gemeinden der Stadt. Die Gläubigen treffen sich am Südstern, in der Johannes-Basilika, gleich neben der päpstlichen Nuntiatur. Dass der Glaube hier strenger genommen wird als anderswo, wird schon an der Kirchentür klar. Auf Polnisch wird dort vor unchristlichen Symbolen gewarnt: Pentagramm, Peace-Zeichen, ägyptisches Ankh – muss alles draußen bleiben.
In einem kleinen Saal über der Sakristei sitzt Pater Marek Kedzierski. Der Salesianermönch leitet seit Jahren die Mission. Hinter ihm hängen zwei Wandteppiche. Einer zeigt die schwarze Madonna von Tschenstochau, der andere Papst Johannes Paul II. Die Mission sei eine wichtige Anlaufstelle, sagt der Priester. Acht Messen auf Polnisch hält sie am Wochenende, die Kirchen sind voll.
Viele ließen sich von PiS’ Versprechen überzeugen
Am vergangenen Sonntag, erzählt Kedzierski, habe ein Priester Reliquien von Padre Pio vorbeigebracht. Da seien sie alle gekommen, um einen Handschuh und eine Robe zu sehen, die der italienische Mönch mit den Wundmalen Christi einmal getragen haben soll.
Reliquien sind hoch im Kurs, hier in dieser erzkatholischen Enklave. Am Seitenaltar hängt ein Porträt des kürzlich heiliggesprochenen Papstes, daneben klebt in einer Monstranz einer seiner Blutstropfen. Schon 2009, zwei Jahre vor seiner Seligsprechung, hätten sie den besorgt.
Obwohl Pater Marek Kedzierski seit vielen Jahren in Deutschland lebt, hängt er politisch immer noch an seinem Heimatland. Zur letzten Wahl im Oktober sei er extra nach Polen gefahren. Ganz klar stehe er auf der Seite von PiS. Gute Regierung, sagt er. Warum? Ganz einfach: Weil sie für Christen und Familien einstehen.
„Viele, besonders die Erwerbsmigranten, ließen sich von PiS’ Versprechen überzeugen, in Polen bessere ökonomische Verhältnisse zu schaffen“, sagt Historiker Loew. Die Auswanderung hat für sie weniger mit Sehnsucht, als vielmehr mit der Hoffnung auf gut bezahlte Arbeit zu tun. Sie hängen an Polen und erhoffen sich durch PiS auch in Polen lukrative Jobs. Als die Ministerpräsidentin Beata Szydlo vor Kurzem Angela Merkel besuchte, begrüßte eine Delegation von Gemeindemitgliedern die PiS-Politikerin. Die steht für ein Polen, wie sie es sich erträumen: national, stark, katholisch.
Nach dem Mauerfall wurde es schwer
In Dzidka Düsers Charlottenburger Laden läuft inzwischen das Mittagsgeschäft. Es gibt Kohlrouladen und Essiggurkensuppe, eine polnische Spezialität. Die Ladentür schrappt über den Fliesenboden, und Maria van Velden betritt den Raum. Die Mittsechzigerin begrüßt Düser freundschaftlich. Seit 1980 lebt sie in Berlin, und seit Jahren kommt sie bei ihr zum Einkaufen. Im polnischen Konflikt steht van Velden auf der anderen Seite.
Vor Kurzem war sie auf einer Demonstration. Gegen PiS, versteht sich. Sie hatte T-Shirts drucken lassen dafür. „Ich bin eine schlechte Polin“, stand darauf. Eine Provokation für die Nationalkonservativen, deren Unterstützer Kritiker als Landesverräter bezeichnen. Sie schäme sich für das, was in Polen passiert, erzählt van Velden. Und es schmerzt sie, den Deutschen erklären zu müssen, dass PiS nicht für alle Polen spricht.
Als sie herzog, war es noch leicht. Deutschland war Schachbrett des Kalten Krieges, und Polen, die ihre Heimat verließen, wurden unterstützt. Feind meines Feindes. So einfach war das. Schwer wurde es nach dem Mauerfall. Der gemeinsame Gegner brach weg, und plötzlich wurden Polen als Eindringlinge wahrgenommen. Es war die Zeit der Polenwitze. Polen klauen – Autos und Jobs. Maria van Velden begann damals, ihre Muttersprache nur noch zu Hause zu sprechen. Dieses Phänomen, sagt der Historiker Oliver Loew, sei typisch: „Es war eine Strategie vieler, das Polnische nicht so nach außen zu kehren. Sie wollten möglichst schnell in der deutschen Gesellschaft aufgehen.“
Europa ist wichtiger als alles andere
Bei Maria van Velden änderte sich das allerdings wieder. Heute nennt sie sich eine „stolze Polin“. Für sie hat Stolz wenig mit Nationalismus zu tun. Es sei mehr ein Gefühl als eine politische Aussage. Sie sei auch eine „stolze Deutsche“. Wichtig aber sei doch Europa, mehr als alles andere. Sie will, dass es zusammenwächst. Im Juni wird sie mit einem Freund ein Café eröffnen. „Zuflucht“ soll es heißen und eine Bühne für junge europäische Künstler sein. Kunst verbindet. Klischee eigentlich, aber ihr ist es ernst.
Sie stellt sich damit gegen das, was manche eine „gelungene Integration“, andere „Assimilation“ nennen. Und sie ist nicht allein. Die Integration nämlich, sagt Oliver Loew, habe auch Nachteile: „Es geht da einiges verloren. In den vergangenen Jahren machen sich verschiedene Vertreter der Polen in Deutschland vermehrt Gedanken darüber, welche Teile der eigenen Identitäten man aktivieren will.“
Dzidka Düser hat seit zwei Jahren polnisches Fernsehen. Am Abend, nach der Arbeit im Geschäft, guckt sie Sendungen, die sie schon als Kind gesehen hat. Wie ein Heimkommen aus Berlin, zurück in das Polen ihrer Kindheit. Ihr 23-jähriger Sohn Kamil schimpft deswegen mit ihr. Er versteht nicht, warum sie nicht einfach deutsche Kanäle schaut. Er spricht beide Sprachen perfekt. Beim Fußball fiebert er auch schon mal für die deutsche Mannschaft mit, glaubt Düser. Kein Problem. Die alten Maßstäbe gelten für ihn nicht mehr. Keine Brüche, keine Altlasten. Ist in Ordnung so, sagt Dzidka Düser. So groß ist der Unterschied nicht.
Dieser Text erschien am 10. März auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegel.