Antikes Samarra: Traumhaftes vom Tigris
Das Berliner Museum für Islamische Kunst zeigt das antike Samarra als „Zentrum der Welt“: blühende Metropole, Sitz des Kalifen von Bagdad - und architektonisches Vorbild. Ein Kontrastprogramm zur europäischen Sicht auf den arabischen Raum und seine bedeutenden Reiche.
Die Dimensionen der Stadt waren gewaltig. Über 50 Kilometer erstreckte sie sich entlang des Tigris und zählte rund 300 000 Einwohner – zu einem Zeitpunkt, da Paris gerade 30 000 Einwohner hatte. Die Bauten waren imposant, das berühmte Spiralminarett der Moschee des Kalifen al-Mutawakkil maß 55 Meter, die Fläche der Moschee betrug vier Hektar, der Gebetssaal wurde von einer Mauer mit 44 Halbtürmen umgeben. So zeigte sich die Macht der Abbasiden (749-1258), die als Dynastie den Ummayaden auf den Thron gefolgt waren.
War Max von Oppenheim noch auf Tipps eines befreundeten Beduinen angewiesen, um die Götter von Tell Halaf wieder auferstehen zu lassen, konnte Ernst Herzfeld (1879-1948) sich schon auf die Beschreibungen Oppenheims berufen. 1907 - 08 unternahm Herzfeld zusammen mit Friedrich Sarre, dem Leiter der frisch gegründeten Abteilung für Islamische Kunst der Königlichen Museen in Berlin, eine Reise durch Syrien und Mesopotamien, „um ein Urteil zu gewinnen, an welchem Orte eingehendere Untersuchungen islamischer Denkmäler Erfolg versprächen.“
Das Spiralminarett von Samarra hatte Herzfeld schon 1903 vom Tigris aus gesehen, als er bei Walter Andrae auf der Grabung von Assur weilte. Wo solch ein gewaltiges Bauwerk steht, muss sich etwas finden lassen! Islamische Kunst wurde Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht groß gesammelt, Sarre hatte 1910 eine erste Ausstellung islamischer Kunst aus Privatsammlungen in München gezeigt. Die Auseinandersetzung mit der Fassade von Mschatta brachte Sarre auf die Idee, sich überhaupt mit der Kunstgeschichte jener Epoche zu beschäftigen. Eine großzügige Spende von Elisabeth Wenzel-Heckmann an die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft setzte dann die Suche nach einem Grabungsort für islamische Kunst in Gang.
Samarra war einst eine blühende Metropole, der Kalif von Bagdad hatte seinen ganzen Machtapparat 836 120 Kilometer nördlich nach Samarra verlegt, weil ihm die alte Hauptstadt Bagdad zu unsicher schien. Die Kalifen aus der Familie der Abbasiden, die mit der des Propheten Mohammed verwandt war, hatten einst Kontakte zum Hof Karls des Großen, nach Indien und zu den Tang-Kaisern Chinas, die Macht des Kalifen reichte von Marokko bis nach Zentralasien. Vergleichbare Metropolen waren Xi'an und Konstantinopel.
Kalif al-Mutawakkil (847-861) war ein großer Architekturliebhaber, ihm verdankte Samarra seine Große Moschee mit dem Spiralminarett sowie 20 Paläste, darunter den von Herzfeld ausgegrabenen riesigen Palast Balkuwara. Nach seinem Tod allerdings wurde 892 Bagdad wieder Hauptstadt. Samarra blieb ein bedeutender schiitischer Pilgerort – hier entschwand 874 der zwölfte Imam, der Mahdi, auf dessen Rückkehr immer noch gewartet wird.
Die Dimensionen der Prachtbauten lassen sich auf den Luftbildern erahnen, mehr aber auch nicht, da – wie überall in Mesopotamien – die Großbauwerke meist aus ungebrannten Lehmziegeln errichtet wurden. Hilfreich sind da Herzfelds gezeichnete Rekonstruktionsversuche.
Berühmt ist Samarra für die Stuckdekoration der Paläste und der Privathäuser. Herzfeld hatte drei Stile identifiziert, die, wie man heute weiß, alle gleichzeitig verwendet wurden. Der dritte mit seinen stark abstrahierten Ornamenten, die sich beliebig reihen ließen, prägte den ersten einheitlichen Stil des abbasidischen Reiches und war bald in Ägypten, Syrien und Afghanistan zu finden.
Das Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum zeigt zum 101. Jubiläum der Grabung Herzfelds Samarra nun als „Zentrum der Welt“. Als Blickfang der Ausstellung sind die von Herzfeld entdeckten Stuckreliefs zu einer Wand zusammenfügt, um in etwa die Wirkung der „Tapeten aus Stuck“ zu zeigen.
Als der Kalifenhof von Samarra aufgegeben wurde, nahm man alles Verwertbare wieder nach Bagdad mit. Insofern hat Herzfeld in Samarra keine Großobjekte gefunden. Das erinnert an das Schicksal Achet-Atons, der Hauptstadt des ägyptischen Reiches, die einst im Nirgendwo von Echnaton errichtet wurde und nach seinem Tod wieder aufgegeben wurde. Auch in Amarna fanden die Archäologen nur noch die Reste, die es nicht mehr wert waren, mitgenommen zu werden. Aber allein die Bruchstücke der luxuriösen Ausstattung der Kalifenpaläste von Samarra lassen ahnen, wie prächtig und bunt die abbasidische Metropole geglänzt haben muss. Betrachtet man im Gegenzug die romanische Architektur in Europa, wird deutlich, warum Samarra das Zentrum der damaligen Welt war. Angesichts der hauchfeinen Glasfunde aus Raqqa, der Sommerresidenz Harun al Raschids, staunt man über die Kunstfertigkeit der Abbasiden.
Erster Testlauf für die neue Ausstellung
Das chinesische weiße Porzellan war ein begehrtes Luxusgut am Hofe der Kalifen. Einheimische Handwerker kopierten und bemalten es mit blauer Farbe, Segenssprüchen und Ornamenten. Über die Mongolen kam dann im Mittelalter diese Vorliebe für Blau auf Weiß nach China – und so entstand dann dort das berühmte blau-weiße chinesische Porzellan, das dann später die Niederländer versuchten nachzuahmen - das berühmte Delfter Blau war das Ergebnis.
Herzfeld hatte seine Grabung an der Großen Moschee am 9. Januar 1911 begonnen, doch bald war ihm klar, dass Ziegelräuber den Bau zum Teil auch schon geplündert hatten. Also wandte er sich den Wohnhäusern zu. Dort kamen sofort die prachtvollen Wandornamente zu-tage, später auch eine Anzahl von keramischen Stücken. Am 2. April 1911 schrieb er in einem Brief an Sarre: „Wir können von diesen Dingen ausgraben, so viel wir wollen, ganze Säle u. ganze Museen kann man damit füllen… Ich habe ja immer viele Hoffnungen auf Samarra gesetzt, aber das habe ich mir eigentlich doch nicht vorstellen können. Ich glaube beinahe, Sie brauchen Exzellenz Bodes Pläne gar nicht mehr abzudämpfen. Wenn Mittel zu beschaffen sind, kann der ganze Parterre des K. Friedrich-Museums gefüllt werden.“
Prunkstück der kleinen Ausstellung ist das Trinkgefäß aus Messing in Form eines Adlers mit leicht gedrehtem Kopf, ein Aquamanile, neben einem verwandten Stück in St. Petersburg die einzige Plastik jener Zeit.
Man kann noch die Spuren der Silbereinlagen erkennen. Bunte Fliesen in Millefiori-Technik sowie wertvolle Lüsterkeramik belegen den hohen Standard des Kunsthandwerks jener Zeit. Die Inszenierung im Islamischen Museum ist ein erster Testlauf für die Gestaltung der neuen Dauerausstellung ab 2019. Hilfreich ist dabei das jetzt abgeschlossene Forschungsprojekt „Experimentierfeld Museologie“, bei dem Susan Kamel und Christine Gerbich Menschen unterschiedlicher Kulturen und Schichten zusammenbrachte, um deren Anforderungen an ein Museum für Islamische Kunst zu erfahren.
Der Wunsch nach mehr begleitender Information, nach kulturellem und historischem Kontext stand dabei im Vordergrund. So gibt es illustrierte Erläuterungen zu den Vitrinen, aber auch an einer Medienstation vier kurze Filme zu den Abbasiden, zur Grabungsgeschichte mit Direktor Stefan Weber, zu einer irakischen Familie, die dort gelebt hat und zu dem Schriftsteller Abbas Khider und seinem Roman „Die Orangen des Präsidenten“, der auch in Samarra spielt.
Die Ausstellung gibt einen beeindruckenden Einblick in die Hochkultur der Abbasiden, sie korrigiert die eurozentristische Sicht auf bedeutende Reiche in der Vergangenheit und hebt die Rolle des arabischen Raumes bei der Kulturvermittlung hervor. Dass dies gerade jetzt geschehen kann, ist sehr bedeutend – nur schade, dass es noch bis 2019 dauern muss, um mehr aus dieser faszinierenden Epoche im Museum für Islamische Kunst auf einer dann größeren Fläche zu sehen.
Im Buchkabinett des Museums sind Fotos aus der Zeit der ersten Grabung zu sehen, Herzfeld und seine Mitarbeiter in den Ruinen der Großen Moschee, aber auch Reisegesellschaften, die zuerst mit dem Flussdampfer auf dem Tigris und dann mit Pferd und Wagen nach Samarra reisten, um die Mauern und das Minarett zu bestaunen. Gewohnt wurde in Zelten. Der Faszination dieser Bilder kann man sich nur schwer entziehen.
Die Ausstellung ist bis zum 26. Mai im Pergamonmuseum zu sehen.
Rolf Brockschmidt