Matera, Europas Kulturhauptstadt: Die schönste Schande Italiens
Die Höhlen von Matera sind seit 9000 Jahren bewohnt. Einst dominierte hier das Elend, inzwischen Airbnb. 2019 ist der Ort eine der Kulturhauptstädte Europas.
Den prächtigsten Blick auf Matera hat man von der Murgia, dem Hochplateau, das durch die tiefe Schlucht des Flusses Gravina von der Stadt getrennt ist. Die in die gegenüberliegende Wand des Canyons gebauten kleinen Häuser und Kirchen wirken wie übereinander gestapelt; verbunden sind sie durch enge Gässchen und steile, verwinkelte Treppen. In der Abendsonne leuchtet der Tuffstein, aus dem Matera erbaut wurde, in warmen Farben, sie reichen von hellem Orange bis zu zartem Violett.
Das pittoreske Häusergewirr, das sind die berühmten „Sassi“. Das bedeutet auf Italienisch „Steine“ – und tatsächlich handelt es sich bei den beiden Quartieren „Sasso Caveoso“ und „Sasso Barisano“ um in den Tuffstein gehauene Höhlensiedlungen, die schon von den Steinzeitmenschen als Behausungen genutzt und in der Spätantike sowie im Mittelalter weiter ausgebaut wurden. Im Laufe der Jahrhunderte ist ein System von übereinanderliegenden und oft miteinander verbundenen Höhlenwohnungen in die Felsen des Canyons gegraben worden. Zusammen mit dem syrischen Aleppo gilt Matera, das bereits vor 9000 Jahren urbane Strukturen aufwies, als älteste Stadt der Welt.
Rund 3000 Höhlenwohnungen hat man in den Sassi von Matera gezählt. Hinzu kommen 162 zum Teil mit farbenfrohen Fresken ausgemalte Höhlenkirchen. Von außen sieht man wenig von diesen Grotten. Im Mittelalter wurden vor die Höhleneingänge die kleinen Häuser und Kirchenfassaden errichtet, die den Sassi heute ihren Charme verleihen.
Doch hinter diesen vorgeblendeten Mauern öffnen sich die Höhlenwohnungen, die oft 15 Meter oder weiter in den Fels reichen. Oberhalb der Sassi, im flachen Teil Materas, befindet sich die barocke Altstadt mit ihren schönen Palazzi, den stets sehr belebten Plätzen und der eleganten Via del Corso.
Mel Gibson drehte hier die "Passion Christi"
Was häufig als atemberaubende Filmkulisse dient – unter anderem für US-Regisseur Mel Gibson, der in den Sassi zahlreiche Szenen seiner „Passion Christi“ gedreht hat – war bis vor wenigen Jahrzehnten ein Ort bitterer Armut gewesen. Noch in den Fünfzigerjahren hatten 15.000 Menschen in den Sassi gewohnt, die meisten von ihnen verarmte Bauern.
Sie lebten in den Höhlen ohne fließendes Wasser, ohne Kanalisation, ohne Heizung. „Im Allgemeinen verfügt jede Familie nur über eine solche Höhle. Und darin schlafen alle zusammen. Männer, Frauen, Kinder und Tiere. Ich habe noch nie ein solches Elend erblickt“, schrieb der Turiner Autor, Arzt und Maler Carlo Levi in seinem 1945 erschienenen Roman „Christus kam nur bis Eboli“ über Matera.
Mit seinem Buchtitel hatte Levi eine Redensart aufgegriffen, mit der die Süditaliener ausdrückten, dass sie sich von Gott und der Welt verlassen fühlten. Matera liegt in der Region Basilicata und befindet sich noch ein ganzes Stück südlich von Eboli, das zu Kampanien gehört.
Die Stadt mit ihren Höhlenwohnungen galt nach dem Zweiten Weltkrieg als „Schande Italiens“, die der damalige Ministerpräsident Alcide De Gasperi im Jahr 1953 räumen ließ. Für die Bewohner wurden Dutzende von Wohnblocks am Rand der heute 60.000 Einwohner zählenden Stadt erstellt. Damit die Evakuierten nicht in die Sassi zurückkehrten, wurde das Viertel eingezäunt und abgesperrt. Die Sassi begannen zu verfallen.
1964 drehte Pier Paolo Pasolini seinen Jesus-Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ („Il Vangelo secondo Matteo“) in den damals verlassenen Sassi. Von da an galt Matera unter den italienischen Linksintellektuellen als Geheimtipp. In den Achtzigerjahren wagten sich auch die ersten Bewohner wieder in das Quartier und begannen die Höhlenwohnungen zu renovieren.
1986 förderte der italienische Staat die Wiedergeburt der Sassi mit einem Kredit von 100 Milliarden Lire, was heute 50 Millionen Euro entspräche. Mit dem Geld wurden die Höhlenwohnungen an die Frischwasserversorgung, an das Stromnetz und die Kanalisation angeschlossen. Heute verfügen die renovierten Wohnungen über jeden Komfort; in den Sassi gibt es mittlerweile sogar 5- Sterne-Unterkünfte.
Inzwischen wohnen wieder rund 3000 Menschen in den "Sassi"
1993 kam eine weitere, entscheidende Wende in Richtung einer besseren Zukunft: Die Sassi von Matera wurden von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Inzwischen wohnen und arbeiten wieder rund 3000 Personen in den „Sassi“, wobei die meisten von ihnen vom Tourismus leben. Seit 2010 hat sich die Zahl der Gästebetten in Matera auf 5000 verfünffacht; in den Gassen der Sassi sind Dutzende von Bars und Trattorien entstanden, die Dichte der Airbnb-Wohnungen ist die höchste der Welt. Und nun wird die Kleinstadt am 19. Januar in einem Festakt mit Staatspräsident Sergio Mattarella offiziell das Jahr als Kulturhauptstadt Europas eröffnen.
Die Wahl hat die Bewohner der ehemaligen „Schande Italiens“ mit Stolz erfüllt. Aber nicht wenige Bürger haben auch Bedenken. „Ja, das Kulturjahr wird der Stadt zu neuen Touristenströmen verhelfen, aber wir müssen aufpassen, dass wir dabei nicht die Seele verlieren“, betont die in Rom lebende, aus Matera stammende Schriftstellerin Mariolina Venezia. Tatsächlich wirken die Sassi schon heute wie ein Freilichtmuseum; eine touristische Übernutzung droht. Letztes Jahr zählte Matera 450 000 Übernachtungen, im Kulturjahr sollen es 800 000 werden. Etliche Bewohner fragen sich, wie die Stadt diesen Ansturm überhaupt bewältigen soll.
Paolo Verri, Programmdirektor des Kulturjahres, ist sich der Gefahr des „Overtourism“ bewusst. „Matera ist eine fragile Stadt, unser Ziel ist deshalb die Förderung eines sanften Tourismus“, betont Verri. Dies will er damit erreichen, dass die Besucher während des Kulturjahres zu „zeitweiligen Bürgerinnen und Bürgern“ gemacht werden: Die Gäste erhalten keine Eintrittstickets für einzelne Veranstaltungen, sondern einen Reisepass.
Der Tourismus-Boom könnte sich als Strohfeuer erweisen
Zentrales Anliegen Verris war es auch, die Einheimischen in die unzähligen kulturellen Veranstaltungen des Kulturjahres miteinzubeziehen. Zwischen Mai und Juni werden die Sassi zur Freilichtbühne: Das Purgatorium, der zweite Teil von Dantes „Göttlicher Komödie“, wird aufgeführt, und 800 Bewohnerinnen und Bewohner von Matera sollen als Komparsen mitmachen.
Verri ist überzeugt, dass die Region von dem Kulturjahr profitieren wird. Nötig wäre es: Die Basilicata mit nur 570.000 Einwohnern zählt zusammen mit Molise und Kalabrien zu den ärmsten Regionen im wenig entwickelten Mezzogiorno, dem Süden Italiens. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegt bei 40 Prozent; viele Junge wandern ab. Es fehlt an staatlichen Infrastrukturen und privaten Investitionen.
Matera ist ein gutes Beispiel für die Vernachlässigung durch Rom: Die italienische Staatsbahn fährt zwar, von Rom und Neapel aus kommend, etwas weiter als bis nach Eboli. Aber sie hält in Ferrandina, 35 Kilometer von Matera entfernt. Als Alternative bietet sich einzig eine kleine Privatbahn an, mit der man von Bari aus in die Kulturhauptstadt Europas gelangt – aber die benötigt für die 70 Kilometer lange Strecke über zwei Stunden.
Der Tourismus-Boom, der während des Kulturjahres erwartet wird, könnte sich deshalb als Strohfeuer erweisen. Oder um bei Carlo Levi zu bleiben: Christus kommt zwar in diesem Jahr nicht nur nach Eboli, sondern endlich auch nach Matera. Ob er später wieder einmal zurückkehren wird, ist ungewiss.
Dominik Straub