Mord an Jo Cox: Großbritannien und die Stille danach
Die Labour-Abgeordnete Jo Cox ist tot – und die laute Brexit-Debatte verstummt. Weil plötzlich deutlich sichtbar ist, wohin Hass führen kann.
- Sidney Gennies
- Moritz Honert
- Katja Demirci
- Albrecht Meier
Es ist kurz vor eins am Donnerstagmittag, als die Labour-Abgeordnete Jo Cox ihre Bürgersprechstunde in der Bibliothek des nordenglischen Städtchens Bristall beendet, hinaustritt auf die ruhige Straße, in die Sonne. Eine Stunde später ist sie tot.
Er habe gesehen, wie ein Mann Jo Cox trat, wie er eine Pistole aus einer schwarzen Tasche zog, wie er schoss und sie an den Haaren riss, erzählte ein Augenzeuge britischen Medien. „Er schoss einmal und drei oder vier Sekunden später noch einmal. Bang, bang. Und dann sah ich sie auf dem Boden zwischen den zwei Autos.“ Ein anderer beschrieb, wie der Täter auch mit einem Messer auf Cox einstach, „ein halbes dutzend Mal“.
Der Mann fuchtelte weiter mit dem Messer um sich, verletzte einen 77-Jährigen. Die Menschen rannten davon, schrien. Dann überwältigte die Polizei den Angreifer.
Auf den Klang der Schüsse, Schreie und Sirenen folgte die Stille. Zum ersten Mal seit Monaten.
Die Tat fällt in eine Zeit, in der das Land tief gespalten ist – in Brexit-Befürworter und -Gegner. Beide Seiten bezichtigten sich in den vergangenen Wochen der Lüge, attackierten sich persönlich und je näher die Abstimmung über einen Austritt aus der EU am kommenden Donnerstag rückte, desto schärfer wurde der Ton. Am Tag nach der Tat ist nun Entsetzen das überwältigende Gefühl, wie Watte liegt es über der politischen Diskussion.
Denn Thomas M., der mutmaßliche Täter, Bewohner eines typisch englischen Reihenhauses und in der Stadt als hilfsbereiter Einzelgänger bekannt, war nicht nur ein Mann mit offenbar schweren psychischen Problemen, wie sein Bruder Scott dem „Daily Telegraph“ berichtete. Darüber hinaus soll er Sympathisant rechtsextremer Gruppierungen sein. Zwei Augenzeugen wollen gehört haben, wie er „Britain First“ rief, bevor er Cox angriff.
„Britain First“, so heißt eine rechte Partei in Großbritannien, deren Stellvertreterin Jayda Fransen sich beeilte, britischen Zeitungen mitzuteilen, sie sei „extrem geschockt“ und die Partei „nicht involviert“. „Britain First“, das könnte auch als Schlachtruf verstanden werden. Es ist eine Losung der Befürworter des Austritts.
Unterstützer und Gegner des Brexit sagten nach dem Attentat alle Wahlkampfveranstaltungen rund um das Referendum vorerst ab. Das Land nimmt sich nach dem Chaos der vergangenen Tage einen Moment, um innezuhalten. Sofort, nachdem der Tod von Jo Cox bekannt geworden war, versammelten sich die Abgeordneten des britischen Parlaments am Londoner Parliament Square für ein stilles Gedenken. Viele Londoner legten Blumen nieder und Fotos von Cox. Zwischen all dem stand erschüttert auch Jeremy Corbyn, Labour-Parteivorsitzender. „Jo starb, während sie ihrer Pflicht im Herzen unserer Demokratie nachkam, jenen zuhörte und jene repräsentierte, für die sie gewählt war“, wurde er in britischen Zeitungen zitiert. Jeremy Corbyn erklärte zudem: „In den kommenden Tagen werden einige Fragen zu klären sein, wie und warum sie starb.“
In Großbritannien hat es seit mehr als 25 Jahren nicht mehr einen solchen Angriff auf Abgeordnete gegeben. Im Jahr 1990 hatte die IRA den Konservativen Ian Gow ermordet.
In Deutschland steht derzeit Frank S. vor Gericht. Im vergangenen Oktober hatte er der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker bei einer Wahlkampfveranstaltung ein Messer in den Hals gerammt. Sie überlebte schwer verletzt. Der Angreifer sagte damals, er habe sie wegen ihrer Flüchtlingspolitik umbringen wollen, um Deutschland zu retten. Auf Twitter schrieb Reker nun: „Der Tod von Jo Cox geht mir wirklich nahe. Ausländerfeindliche Parolen münden unweigerlich in Gewalt. Wir alle tragen Verantwortung, dass es in Deutschland und Europa nie wieder so weit kommt.“
Es ist ein Satz, den Jo Cox wohl so unterschrieben hätte. Cox wurde 1974 als Helen Joanne Leadbeater geboren und hatte sich, seit sie im Mai 2015 ihren Wahlkreis Batley und Spen mit großer Mehrheit gewonnen hatte, lautstark für einen Verbleib Großbritanniens in der EU und eine multikulturellen Gesellschaft engagiert. In ihrer Antrittsrede im Parlament 2015 erklärte sie: „Unsere Gemeinden sind durch Zuwanderung sehr viel besser geworden, sei es durch irische Katholiken überall im Wahlbezirk oder durch Muslime aus Gujarat in Indien oder aus Kaschmir in Pakistan.“
Sie war die Tochter einer Schulsekretärin und eines Fabrikarbeiters, die erste ihrer Familie, die einen Uniabschluss machte. Vor ihrer Zeit als Abgeordnete arbeitete Cox bei Kinderschutzorganisationen wie Save the Children oder der NSPCC. Für Oxfam war sie in leitenden Positionen in Brüssel und New York tätig. Bei der Wohltätigkeitsorganisation lernte sie auch ihren Mann Brendan Cox kennen, der später als Berater für den damaligen Premier Gordon Brown arbeitete. Sie selbst beriet Browns Frau Sarah bei deren Kampagne gegen die hohe Sterblichkeitsrate von Müttern in Entwicklungsländern.
Jo Cox hat Elendsviertel und Kriegsgebiete besucht. Dann zog sie in ihre Heimat Yorkshire zurück. Gordon Brown drückte es nach ihrem Tod laut „Guardian“ so aus: „Sie war an einigen der gefährlichsten Orte der Welt. Der letzte Ort, an dem sie in Gefahr hätte geraten sollen, ist ihre Heimatstadt.“
Innerhalb der Labour-Partei galt Cox als Talent. Sie engagierte sich dort weiterhin für soziale Themen und wurde Vorsitzende des Frauennetzwerks.
Sich selbst beschrieb Cox auf Twitter als „Mutter, stolzes Yorkshire-Mädchen, Bootsbewohnerin und Bergsteigerin“. Tatsächlich lebte sie, wenn sich die Familie nicht in ihrem Wahlkreis aufhielt, mit ihrem Mann und den zwei Kindern auf einem Hausboot auf der Themse in London. Die Kinder sind drei und fünf Jahre alt.
„Sie werden ohne ihre Mutter aufwachsen“, sagt Labour-Chef Jeremy Corbyn, „und können doch enorm stolz auf alles sein, was sie tat, was sie erreicht hat und wofür sie stand.“ Nach der Tat wendet sich auch Cox’ Ehemann Brendan an die Öffentlichkeit: „Sie hätte sich jetzt zwei Dinge gewünscht. Erstens, dass unsere geliebten Kinder viel Liebe erfahren, und zweitens, dass wir uns alle zusammentun, um gegen den Hass zu kämpfen, der sie getötet hat. Hass hat keine Überzeugung, Ethnie oder Religion, er ist giftig.“
Wie auch andere Abgeordnete war Jo Cox immer wieder Anfeindungen ausgesetzt. Bereits vor Monaten hatte sie der Polizei gemeldet, sie sei bedroht worden, habe „bösartige Mitteilungen“ bekommen. Die Polizei nahm im März sogar einen Mann fest und verwarnte ihn. Es sei jedoch ein anderer gewesen, als ihr mutmaßlicher Mörder.
Was den Attentäter antrieb, wird erst nach und nach klar. Inzwischen hat die amerikanische Organisation „Southern Poverty Law Center“, die sich gegen Rassismus engagiert, auf ihrer Webseite bekannt gemacht, dass Thomas M. ein Unterstützer der „National Alliance“ gewesen sei, einer US-amerikanischen NeonaziOrganisation. Angeblich habe M. unter anderem 1999 eine Bauanleitung für eine Waffe gekauft, Kopien der Rechnungen sind auf der Webseite einsehbar. Der Bruder von Thomas M. allerdings sagte dem „Daily Telegraph“: „Mein Bruder ist nicht gewalttätig und er ist nicht besonders politisch.“ Da sich die Polizei bislang zu keinem eindeutigen Tatmotiv geäußert hat, bleibt all dies genauso wie Überlegungen zu M.s Gesundheitszustand Spekulation.
So gut wie sicher ist jedoch, dass die Ermordung von Jo Cox Einfluss haben wird auf die Diskussion um den Brexit. Prompt bezifferte jedenfalls der Onlinewettanbieter Betfair die Wahrscheinlichkeit eines Verbleibs von Großbritannien in der EU nun mit 67 Prozent. Vor der Ermordung hatte die Chance noch bei 60 Prozent gelegen. Auch die Börsenkurse stiegen am Freitag.
Während britische Politiker sich nur zurückhaltend äußern, kommen aus dem EU-Parlament deutliche Worte. Die Vorsitzende der Grünen-Fraktion, Rebecca Harms, beispielsweise meint, ungeachtet der Motive des Täters müsse man feststellen, dass die Diskussion für und gegen einen Brexit in Großbritannien „aus den Fugen“ geraten sei. „Diese Mordtat kann jeden, der engagiert Politik macht, einfach nur total erschrecken.“ Harms berichtet auch, dass vor einer Woche einige ihrer Parteifreundinnen wegen der scharf geführten Brexit-Debatte den Tränen nahe gewesen seien. Völlig ratlos auch, wie sie in der aufgeheizten Stimmung überhaupt noch durchdringen sollten.
Der Tod von Cox hat nun auch jene Politiker nachdenklich gemacht, die sonst mit Härte gegen ihre Gegner vorgehen. Selbst Nigel Farage, der stets polternde Chef der EU-feindlichen Ukip-Partei, sagt: „Ich bin zutiefst traurig.“ Der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der wie kein anderer die Stimmung im Land immer wieder angeheizt hatte, sagt nun, es sei „entsetzlich, dass eine Abgeordnete ums Leben kommt, die einfach nur ihr Bestes für die Wählerschaft tut“.
Einer aber ging der Tod von Jo Cox besonders nahe. Gisela Stuart landete gerade auf dem Flughafen Glasgow, als sie von der Ermordung ihrer Fraktionskollegin hörte. Stuart ist in Niederbayern geboren, vertritt seit 1997 den Wahlbezirk Birmingham-Edgbaston. Wie Cox ist sie Labour-Politikerin, doch was die Frage einer EU-Mitgliedschaft anging, waren sie uneins. Cox glaubte an Europa, Stuart wollte den Austritt.
„Jo war eine Freundin und stellte für mich die Zukunft dar“, schreibt sie nun per Mail. „Sie zahlte den höchsten Preis für das, woran sie glaubte – eine funktionierende, offene Demokratie.“
Am Freitagnachmittag dann mischt sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Debatte ein. Sie glaube, sagt sie, „dass die Lehre daraus ganz allgemein sein muss, dass wir einander mit Respekt begegnen müssen, auch wenn wir unterschiedliche politische Auffassungen haben“. Sie kritisiert die „Überhöhung“ und „Radikalisierung“ der Sprache, die die Auseinandersetzung anheize. Man müsse Grenzen ziehen und Andersdenkenden mit Respekt gegenübertreten. „Auch anders Glaubenden, anders Lebenden, anders Liebenden.“
Jo Cox glaubte, dass eine solche Gesellschaft möglich ist. Am kommenden Mittwoch wäre sie 42 Jahre alt geworden.