"Liberté" an der Volksbühne: Die Reise nach Sänftenberg
Wohin, Volksbühne? Der Filmregisseur Albert Serra stochert mit „Liberté“ in der preußisch-französischen Sittengeschichte herum.
Im Dämmer liegt die Bühne. Zwei Gestalten lagern malerisch in der Landschaft, die etwas Wild-Bukolisches hat und Brandenburg vorstellen soll. Die Rede – sehr leise, in den hinteren Reihen kaum zu verstehen – geht über die Sehnsucht nach den Städten, wo es Spaß und Ausschweifung gibt. Die Story, wenn man das überhaupt so nennen kann, erzählt von einem Trupp französischer Adliger auf dem Weg nach Potsdam und Berlin, anno 1774. Sie fliehen vor Ludwig XVI. und seiner Prüderie und wollen die Preußen missionieren, Libertinage einführen. Heißer Sex im märkischen Sand?
Doch eher morbide Fantasie. Der spanische Filmregisseur Albert Serra hat ein Faible für solche Themen. Auf dem Filmfestival in Cannes lief 2016 sein Film „La mort de Louis XIV“ mit Jean-Pierre Léaud. Für sein Debüt an Chris Dercons Volksbühne hat er Ingrid Caven und Helmut Berger gewonnen, zwei große alte Stars des Kinos der sechziger und siebzige Jahre, mit Visconti und Fassbinder verbunden. „Liberté“ heißt das Stück, die Installation, die Séance, das Missverständnis, das Desaster auf der Breitwandbühne von Sebastian Vogler, die sich erst zum Ende der bald zweieinhalb Stunden etwas aufhellt.
Da stirbt der Duc de Walchen, Anführer der Libertins, gespielt von Helmut Berger. Die ganze Zeit bis dahin hat er in seiner Sänfte verbracht, wo man ihm junge Menschen zuführt. Wer Perücken erotisch findet, kommt hier auf seine Kosten. Gleiches gilt für die Transportmittel. Wer ein Fetischist von Sänften ist, erlebt einen großartigen Abend. Ohne Ende werden Sänften hineingetragen und herausgetragen, mit Ingrid Caven, der Duchesse de Valselay, mit Jeanette Spassova, die eine Äbtissin spielt, mit Anne Tismer, der Comtesse de Weinsbach.
Wer Sänften mag, kommt hier auf seine Kosten
Serras Drehbuch versammelt Sätze, die man dem Marquis de Sade zuschreiben könnte oder den „Gefährlichen Liebschaften“ von Laclos. Aber gefährlich ist das hier in keinem Augenblick, nur langweilig. Die Sänften besänftigen jeden Anflug von Furor oder Lust. Manchmal hat man den Eindruck, hier werde eine Castorf-Inszenierung parodiert, wobei die Akteure Beruhigungsmittel genommen haben müssen. „Liberté“ erinnert an die schlechtesten Castorf-Jahre, die es ja auch an der Volksbühne gab. Damals regierte der Überdruss, heute ist es bloße Apathie.
Auf dem Programmzettel steht herausfordernd: „Man weiß nie genau, was Sache ist, denn zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen liegt ein schmaler Grat.“ Wohl wahr.
So geht man nicht mit Schauspielern um
Was läuft schief? Ins Auge springt erst die Verwechslung von Literatur und Film – und dann die Verwechselung von Film und Theater. Man muss kein Purist sein, um mit Serras „Liberté“ Probleme zu haben. Es funktioniert einfach nicht, ein paar gute und berühmte Schauspielerinnen auf die Bühne hinzustellen, eine schöne Filmkulissennatur zu bauen und mit erotisierten Wortkaskaden herumzurauschen, die immer so klingen, als seien sie gerade aus dem Französischen übersetzt. Es muss sich bitte auch nicht alles jetzt auf MeToo-Debatten und sexuelle Übergriffigkeit beziehen. Aber ein Stück über Sex und Freiheit derart wegzuhistorisieren, ist auch keine Lösung. Wobei Serra es fertigbringt, das Zeitalter der Libertinage mit Flüsterton und staksigen Gesten zu veröden. Ingrid Cavens schriller Gesang am Schluss, der alte Helmut Berger, den sie auf die Bühne legen: Das ist dann wirklich dekadent. So geht man nicht mit Schauspielern um. Auch nicht mit den jüngeren.
Spannender sind die Gespräche im Foyer. Ist diese Volksbühne zu retten, kommt sie auf die Beine? Kommt vielleicht bald Armin Petras aus Stuttgart nach Berlin zurück, da nun sein Stellvertreter Klaus Dörr schon mit Dercon und der Volksbühne in Verbindung gebracht wird? Es sind Gerüchte, und am Ende ist oft nicht viel Wahres dran. Aber die Spekulationen zeigen, dass sich jetzt nicht mehr nur die unversöhnlichen Castorfianer um dieses Theater sorgen. Sie verweisen auch auf einen beängstigenden Vertrauensverlust der Intendanz. Wie geht das weiter? Geht es weiter? Sicher: Die Spielzeit ist noch nicht vorüber, und Dercon hat erst im Herbst eröffnet. Aber es gab bisher nicht einen einzigen Hinweis darauf, wie der leer geräumte Kasten neu belebt werden kann.
Wieder am 24., 25. 2., 4. und 22., 23. 3.
Rüdiger Schaper