Staatstheater Cottbus: Die Musen der Niederlausitz
Herrliche Hülle, vitaler Kern: Das Staatstheater Cottbus ist Brandenburgs letzte Mehrspartenbühne - und ein äußerst lebendiger Kulturort
Wer nicht reingeht, ist selber schuld. Sicher, schon die Fassade bietet einen grandiosen Anblick: Da ist der von zwei Panthern gezogene Streitwagen auf dem Dach, da sind die Laternen, die jeweils aus dem Rücken einer Sphinx wachsen, geflügelte Greifen erheben sich über Springbrunnen, und Putten in Klassenstärke tanzen um steinerne Blumenbouquets. 1908 erbaut von Bernhard Sehring, dem auch das Berliner Theater des Westens zu verdanken ist, gehört das in den letzten Jahren umfassend sanierte Cottbuser Staatstheater zu den schönsten Bühnenbauten Deutschlands.
Drinnen geht das Staunen weiter. Wie großartig spielt der Architekt mit den kleinen Dimensionen des Gebäudes: Grau-weiß geäderter Marmor gibt dem Eingangsbereich Würde, rechts und links der zentralen Abendkassen-Nische wachen Büsten von Goethe und Schiller. Golden gegürtete Säulen flankieren die Treppen zum Rang, wo sich das eigentliche Foyer öffnet, ein bildungsbürgerliches Pantheon, dessen Kassettendecke Sehring nach der damals allerneuesten Mode mit nackten Glühbirnen zu einem Sternenzelt veredelte. An den Wänden Skulpturen der antiken Musen, mittig thront eine Venus über einer Rundbank.
Im 620-Plätze-Saal begegnen dem Besucher weitere Panther-Gespanne, in den Nischen des 1. Ranges beschwören mannshohe Majolika-Vasen die goldenen Zeiten der italienischen Renaissance, kokette, barbusige Relief-Fräuleins an den Balustraden legen ihre Arme lässig über Stuckkästchen, in denen weitere Glühlampen brennen. Das Rot der Samtsitze korrespondiert mit der Grundfarbe des prächtigen Jugendstil-Vorhangs.
Wo die Hülle so attraktiv ist wie in Cottbus, darf das Programm ruhig etwas herausfordernder ausfallen. Eine 90-prozentige Auslastung haben die Sinfoniekonzerte, die jeweils doppelt gespielt werden – und das, obwohl Generalmusikdirektor Evan Christ seit sieben Jahren an jedem Abend eine Uraufführung spielt. Ein Fünf-Minuten-Stück nur, aber immerhin. „Das Orchester ist dadurch viel flexibler geworden, wacher und auch experimentierfreudiger“, sagt der Amerikaner und strahlt übers ganze Gesicht. „Und diese Energie bekommt natürlich auch unser Publikum mit.“ Evan Christ ist einer, der andere mitreißen kann. Er geht offen auf die Zuschauer zu, wirbt für die Novitäten, versucht auch noch die hartnäckigsten Zweifler umzustimmen. Darum schlüpfte er im Sommer sogar selber in die Rolle eines Komponisten, knapste sich einen Teil seiner Sommerferien ab, um sich in dieser Saison mit zwei eigenen Stücken in der Neue-Musik-Schiene präsentieren zu können.
Stolz ist Evan Christ auch auf die erfolgreiche Kammermusikreihe, die seine Musiker in Alleinregie veranstalten, im ehemaligen Dieselkraftwerk, einem Backsteinbau aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, der heute als Kunstmuseum der Stadt genutzt wird. In dieser Saison widmet er zudem jedes Sinfoniekonzert jeweils nur einem Komponisten: von Dvorák über Vaughn Williams und Schostakowitsch bis zu John Adams reicht die Bandbreite. An eine Opernuraufführung hat sich der seit 2008 amtierende Musikchef noch nicht gewagt, dafür ist er mit großem Engagement bei den spartenübergreifenden Produktionen dabei, die das Orchester, die Tanzkompanie und die Solisten aus Schauspiel wie Oper in gemeinsamen Projekten vereinen, zuletzt bei „San Francesco“, einer Parabel über das Leben des gleichnamigen Heiligen, in Szene gesetzt von Choreograf Jo Fabian. Im Musiktheater bietet Cottbus 2015/16 so unterschiedliche Werke an wie Donizettis „La Favorite“ – im französischen Original –, Mozarts „Entführung aus dem Serail“ und Verdis „Don Carlos“.
Martin Schüler, der Intendant, weiß, was in Cottbus geht. Er ist seit 1991 am Haus, war zunächst Operndirektor, bevor er 2003 dann vom legendären Christoph Schroth die Gesamtleitung übernahm. Schüler hat in der Lausitz schon über 70 Inszenierungen herausgebracht, Richard Wagners kompletten „Ring des Nibelungen“ gestemmt, mit einem Freiluft-„Fidelio“ im ehemaligen DDR-Staatsgefängnis überregional Aufmerksamkeit errungen, 2014 Werner Egks „Peer Gynt“ ausgegraben und zuletzt mit einer spektakulären „Tosca“ gezeigt, dass er ein Meister des realistischen Musiktheaters ist. Manche seiner 17 Ensemblemitglieder kennt er seit Jahrzehnten. So wie Gesine Forberger, die als Mozart-Interpretin in Cottbus angefangen hat, jetzt die großen Diven-Rollen singt und gerade als Elektra bei Richard Strauss gefeiert wird.
324 Menschen aus 21 Nationen arbeiten am Staatstheater zusammen.
Wer aus Berlin nach Cottbus fährt, spürt sofort, dass hier das Theater den gesellschaftlichen Mittelpunkt der Stadt bildet. Einen Ort, der nicht nur kleine Bildungsbürger anzieht, sondern auch die Leute aus dem Umland. Den Freundinnen-Cliquen ebenso für einen Kulturausflug wählen wie Familien. 140 000 Tickets werden pro Jahr für die verschiedenen Spielstätten verkauft, zu den neben dem Großen Haus am Schillerplatz eine Kammerbühne und eine Theaterscheune gehören sowie der Innenhof der ehemaligen Alvensleben-Kaserne, wo sich das Probenzentrum befindet. Mit 342 Mitarbeitern ist das Staatstheater einer der großen Arbeitgeber – und ein Zentrum der gelebten kulturellen Vielfalt, in dem Menschen aus 21 Nationen arbeiten.
Nach der weitgehenden Zerschlagung der brandenburgischen Kulturlandschaft in den neunziger Jahren ist das Cottbuser Haus heute das einzige, an dem noch eigene Sparten für Oper, Ballett und Schauspiel existieren (Kindertheater wird in Cottbus sogar an einer eigenen Bühne gespielt). In Frankfurt gibt es nur noch das Staatstheater, in Potsdam, Senftenberg und Schwedt nur Sprechtheater, Brandenburg an der Havel hat gar keine eigene Truppe mehr. Die Erkenntnis, dass weitere Kürzungen existenzgefährdend wären, hat sich mittlerweile auch bei den zuständigen Politikern durchgesetzt.
Das Land Brandenburg trägt zum Etat der „Kulturstiftung Cottbus“, die das Theater zusammen mit dem Museum bildet, darum fast die Hälfte bei. Nur zehn Prozent müssen die Künstler selber erwirtschaften, der Rest kommt von der Stadt. Dadurch kann die Zugangsschwelle niedrig gehalten werden. Das Einzige, was nach Provinz aussieht, ist tatsächlich die Preistabelle für die Tickets: Im Parkett kann man im Schauspiel ab 16 Euro sitzen und selbst bei Musiktheaterpremieren kosten die besten Plätze maximal 48 Euro.
Am 30. Januar hat Martin Schülers Inszenierung von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ Premiere.