Geschichte des Tanzes in Berlin: Die moderne Primaballerina
An diesem Samstag ist Welttanztag. Wir blick zurück nach vorn und sehen, wie der Tanz in Berlin auch heute noch von der Geschichte mitbestimmt wird.
Nahezu unbekannt ist Berlins Tanzgeschichte. Ein Blick zurück aber könnte helfen beim Verstehen gegenwärtiger Prozesse und Entscheidungen. Der Welttag des Tanzes an diesem Samstag gibt dafür einen willkommenen Anlass.
Das Internationale Theaterinstitut der Unesco hat den 29. April, den Geburtstag des Choreografen Jean Georges Noverre (1727-1810), zum Welttanztag ausgerufen. Noverre konnte sein kritisches Bewusstsein schon früh in Berlin schulen. Friedrich der Große wollte nach Eröffnung seines Opernhauses Unter den Linden auch eine eigene Ballett-Compagnie haben. Berlin war damals Provinz. Seine erste Ballerina, Barbara Campanini, genannt Barberina, musste er entführen lassen. Sie hat sich dann überreden lassen, zu bleiben – mit Geld. Ein frühes Berliner Handlungsmuster? Doch dieser Versuch scheitert, weil die Hochdotierte sich in Preußen nicht standesgemäß zu verhalten weiß und des Landes verwiesen wird.
Zu eben jener Zeit beobachtet der junge Noverre das Ballettunwesen mit seinen sinnfreien Kunststückchen kritisch und entwickelt Vorschläge, wie man aus zusammenhanglosem Herumgehopse eine eigenständige Theater-Gattung machen könnte. Eine Handlung müsste tanzend so dargestellt werden, dass das Publikum sie nachvollziehen kann und von ihr emotional berührt wird.
Seine „Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette“ verraten, dass er zwischen Ballett und Tanzkunst offenbar einen Unterschied sieht. Diese Texte sind ein beeindruckendes Manifest für einen Ausdruckstanz als Gegenentwurf zum etablierten Ballett. Er benennt den Grundwiderspruch des damaligen Bühnentanzes, der auch heute für viele nicht gelöst scheint: Virtuosität oder Expressivität, Tradition oder Moderne, klassisch oder zeitgenössisch, können oder wollen?
im 19. Jahrhundert dümpelt Berlin tänzerisch vor sich hin
Paris, London, Moskau, St. Petersburg, Kopenhagen und Wien entwickeln sich im 19. Jahrhundert zu Ballett-Zentren. Die großen Werke des klassisch-romantischen Repertoires, von „Le Sylphide“ bis „Giselle“, von „Dornröschen“ bis zum „Nussknacker“, von „Le Corsaire“ bis „Don Quixote“ erleben ihre Uraufführung nicht in Berlin. Die Stadt dümpelt tänzerisch vor sich hin. Es wird mehr marschiert als getanzt. Gastspiele gibt es wohl, vor allem von Ballerinen; große Werke werden von anderswo übernommen. Etabliert sich hier ein weiteres Berliner Handlungsmuster? Dass die Berliner Ballettentwicklung nicht mit den europäischen Metropolen mithalten konnte, hängt auch mit der späten Reichseinigung zusammen. Denn während die genannten Städte auch kulturelle Zentren ihrer Nation sind, leistet sich hier jeder Landesfürst sein eigenes Theater. Heute allerdings gibt es kein anderes Territorium auf der Welt mit einer derartigen Dichte von Theatern mit Ensembles.
Berlin holt erst im 20. Jahrhundert auf, vor allem im Bereich des modernen Tanzes. Seine Begründerin Isadora Duncan (1877-1927) macht nicht nur gern in der Stadt Station, sondern eröffnet auch eine eigene Schule, um ihre Idee des freien Tanzes weiterzugeben. Verständlich, dass ihre Art, sich zu zeigen, den Vertretern des Balletts seltsam ungeformt erscheint. George Balanchine, Begründer des Neoklassischen Balletts, fasst es wohl am drastischsten zusammen: Er habe Isadora Duncan als dicke Frau gesehen, die sich auf der Bühne wälzte wie ein Schwein. Auch der Berliner Tanzkritiker der Vossischen Zeitung, Artur Michel – ein Verfechter des modernen Tanzes – schreibt 1927, dass sie Mut, Willen und Energie gehabt habe, die neu erwachte Lust am bewegten Körper in die Tat umzusetzen. Ihre Schwäche sei gewesen, dass ihre tänzerische Begabung für die Umsetzung nicht ausgereicht habe.
Auch die berühmten Ballets Russes kommen nach Berlin. Allerdings eher deshalb, weil sie auf ihren Reisen von Russland nach Westeuropa hier Station machen. Ein Geschenk machen die Russen den Berlinern 1910: die deutsche Erstaufführung des Balletts „Carnaval“ im Theater des Westens mit Vaclav Nijinsky in der Hauptrolle des Harlekin – noch vor der Pariser Premiere! Und es soll auch ein Besuch auf der Berliner Museumsinsel gewesen sein, der Vaclav Nijinsky zu seinem „L'Après-midi d'un faune“ inspiriert habe, in dem er sich 1912 als klassischer Startänzer erstmalig vollständig von diesem Bewegungsidiom abwandte und seine Sicht auf sexuelle Triebhaftigkeit mit modernen Tanz- und Alltagsbewegungen choreografierte.
Lieber groß in der Provinz als sich in Berlin zerfetzen zu lassen
Sex und Skandal sind dann auch die Währung, mit denen Tänzerinnen wie Valeska Gert oder Anita Berber die Berliner erschrecken und verzücken. Auch die Großen des modernen Tanzes wie Mary Wigman, Palucca oder Harald Kreutzberg gastieren regelmäßig in der Stadt, können oder wollen sich hier aber nicht etablieren. Möglicherweise ist ihnen das Angebot und die Konkurrenz zu groß und der kritische Blick zu geschärft. Da ist es einfacher, die oder der Größte in der Provinz sein, als sich in Berlin seine schöne Kunst von der Presse zerfetzen und vom Publikum ausbuhen zu lassen. Ein Berliner Handlungsmuster?
Denn den am Berliner Opernhaus Unter den Linden etablierten Modernen ergeht es ebenso. Hier scheitern 1930 Max Terpis mit seinem Versuch, Klassik und Moderne zu verbinden, und anschließend 1937 Rudolf von Laban, der große Vordenker und Theoretiker des modernen Tanzes. Die NS-Zeit ist für den modernen Tanz eine zwielichtig-helle. Die modernen Tänzer sehen sich einer bis dahin nicht gekannten Unterstützung ausgesetzt und greifen (überwiegend) zu. Tanzfestspiele ermöglichen bezahlte Auftritte in der Hauptstadt. Mary Wigman kürt sich zur Führerin des deutschen Tanzes und Palucca sich zur deutschesten Tänzerin. Welche Überhöhung!
Nach Ende des zwölfjährigen Reiches besetzen dann, wie Klaus Geitel es so pointiert formuliert hat, vier Ballettnationen Deutschland und Berlin. In den USA gibt es seit der Gründung der School of American Ballet 1934 neuerdings das neoklassische Ballett. Die folgenden Zeiten sind in Ost-Berlin und West-Berlin nicht so unterschiedlich, wie die Zeitgenossen es empfunden haben mögen. Die Ensembles eint dasselbe Ziel: Klassik zeigen zu können. Im Osten leiten Lilo Gruber, Claus Schulz und Egon Bischoff. Im Westen Gerd Reinholm und Richard Cragun. Tatjana Gsovsky in Ost und in West.
Aus den Trümmern steigt hoffnungsvoll das Staatsballett empor
Etwas Originäres wird 1966 an der Komischen Oper geschaffen: das Tanztheater mit Tom Schilling. In Anlehnung an die Konzeption des Musiktheaters des Intendanten Walter Felsenstein entsteht eine eigene Ästhetik mit einer eigenen choreografischen Handschrift. „Menschliches menschlich sagen“, ist Ziel und Motto. Alle künstlerischen Mittel sind willkommen, um eine getanzte Bühnenhandlung verständlich, nachvollziehbar und beeindruckend zu gestalten. Und es gelingt. Die Komische Oper wird in Berlin ein künstlerisch exterritorialer Ort.
Als Schlusspunkt der getrennten, parallelen Entwicklungen könnte man im Osten William Forsythes „Love Songs“ ansehen. Es ist bemerkenswert, dass das Ballettensemble der Staatsoper dieses Werk 1988 tanzt. Es zeigt das dort gewachsene Verständnis von klassischer Schulung und zeitgenössischem Repertoire. Die Komische Oper verliert kurz nach der Wende ihren langjährigen Hauschoreografen. In der Deutschen Oper wird 1990 noch einmal Opulenz aufgefahren und „Der Ring um den Ring“ von Maurice Béjart inszeniert. Dann implodiert die Berliner Ballettszene, und aus den Trümmern steigt hoffnungsvoll ein Staatsballett hervor. Polina Semionova, Vladimir Malakhov und Gregor Seyffert beginnen 2002 ihre künstlerische Arbeit in der Stadt.
Auch wenn sich Berlin bisher nicht als ein Hotspot für Tanz-Uraufführungen einen Namen gemacht hat, sind doch die Bedingungen besser als je zuvor: ein für deutsche Verhältnisse riesiges Staatsballett, das Ensemble des Friedrichstadt-Palasts, das neugegründete Landesjugendballett an der Staatlichen Ballettschule Berlin, Sasha Waltz & Guests, so viele freie Tänzerinnen und Tänzer wie nie zuvor, Tanzbühnen ohne Ende. Zum Wehklagen gibt es sicher immer viele Gründe, aber mindestens ebenso viele, mutig in die Berliner Tanzzukunft zu schauen.
Ralf Stabel leitet die Staatliche Ballettschule Berlin und ist u. a. Autor der Bücher „IM Tänzer – der Tanz und die Staatssicherheit“ und „Rote Schuhe für den sterbenden Schwan. Tanzgeschichte in Geschichten“.
Ralf Stabel
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