„Alles über Micky Maus“: Die Maus als Marke
Der Band „Alles über Micky Maus - Vom Dreikäsehoch zum Meisterdetektiv“ vereint etliche Erzählungen aus der 85-jährigen Geschichte der Figur – mit vielen Höhepunkten, aber auch einigen Enttäuschungen.
Und wieder einmal hat der Egmont-Verlag einen dieser Ziegelsteine mit Disney-Material auf den Markt geworfen. Das voluminöse Publikationsformat lässt mutmaßen, dass hier wohl in erster Linie der stationäre Buchhandel samt Präsentationsflächen anvisiert wird. Seit „Onkel Dagobert - Sein Leben, seine Milliarden: Die Biografie“ aus dem Jahr 2008 wird in diesen Ausgaben anthologisches Material von überwiegend anatidaeischer Natur versammelt. Strebte der erste Band mit Geschichten von Don Rosa noch an, eine Art Biografie der „reichsten Ente“ der Welt nachzuzeichnen, wobei er aber tatsächlich eine leicht veränderte und ergänzte Neuauflage eines Sammelbandes von 2003 war, folgte 2010 mit „Onkel Dagobert - Aus dem Leben eines Fantastilliardärs“ eine ähnliche Unternehmung mit Carl Barks-Geschichten über den Ent(r)epeneur im Federgewand.
Eine Ikone wie Coca-Cola oder Superman
Nun ist der erste Band durchaus gelungen, da die dahinterstehende Gesamtkonzeption Sinn macht; beim Nachfolger mag man trotz des auch hier bereits vorher in vielfältiger Form veröffentlichten Materials noch ein Auge zudrücken. Für „Onkel Dagobert - Milliardenraub in Entenhausen“ (2011) „existierte als Konzept lediglich der Titel, der nahe legte, dass es um Geschichten rund um den Geldspeicher und Angriffe auf ihn gehen sollte.“ Gleichzeitig bot er diesmal sowohl Geschichten von Don Rosa wie auch von Carl Barks. Geschenkt.
Dass „Länder, Enten, Abenteuer“ (2013) dann die von Don Rosa weiter fortgeführten Barks-Storys gemeinsam mit den Originalen präsentierte, war wohl unvermeidlich. Der nur gefühlten Vollständigkeit halber seien noch die Bände „Donald Duck – Vom Ei zum Erpel“ und „Die Ducks- Eine Familienchronik“ von 2012 beziehungsweise 2010 erwähnt: Ersterer widmet sich dem beliebten Choleriker und Jobversager aus Entenhausen, während Letzterer sich der ganzen bürzeligen Verwandtschaft annimmt, das Konzept der vielfältigen Beliebigkeit wird in beiden Anthologien mit einem großen Aufgebot an Zeichnern und Autoren zusätzlich unterstrichen.
Nun erwischt es also Micky Maus. Als Ikone ein Markenwert, vergleichbar mit Coca-Cola oder Superman, ist die Maus in der Lesergunst eher nicht so wohlgelitten. Verwunderlich also, dass der Keimzelle des Disney-Imperiums überhaupt so eine Mammut-Ausgabe wie der kürzlich veröffentlichte Band „Alles über Micky Maus - Vom Dreikäsehoch zum Meisterdetektiv“ zuteil wird.
Irgendwas mit der Zahl 85 scheint der Grund zu sein – selten weiß man bei den vielen willkürlich ausgewählten Jahresfesten, ob es hier um publikationshistorische Jubiläen geht oder aber irgendeine Comic-Figur mal wieder ihren fiktiven Geburtstag feiert.
Klassische Geschichten - fast unleserlich verkleinert
Um dem unpopulär gewordenen Entenhausener Vorzeigespießbürger etwas von der über die Jahrzehnte abhanden gekommenen Street Credibility zurückzugeben, erwarb Disney sogar die Rechte an der Figur Oswald, the Rabbit zurück und ließ den frühen Vorläufer der Micky-Figur 2010 in einem hippen Videogame namens „Epic Mickey“ zusammen mit der Maus auftreten. Obendrein wurde das Ganze noch als Vorlage für eine Comicadaption genutzt. Diese Vorgehensweise kann als flankierende Maßnahme für die Rückbesinnung auf den ursprünglichen Look der Figur in kurzen roten Hosen und gelben Schuhen gewertet werden, die seit den 1990er Jahren unter der maßgeblichen Ägide von Byron Erickson, Creative Director bei Egmont, und Cèsar Ferioli Pelaez, in zeichnerischer Funktion für Egmont tätig, stattgefunden hat. In der im Band enthaltenen Geschichte „Vertauschte Rollen“ kann man denn nicht nur eine Zusammenarbeit der beiden Disney-Kreativen, sondern gleich noch ein weiteres Co-Feature, nämlich den wesentlich beliebteren Donald Duck, erleben.
Was uns zu den im Band gesammelten Geschichten bringt, der laut Untertitel den Weg vom „Dreikäsehoch zum Meisterdetektiv“ nachzeichnen will. Da wird historisch einiges abgearbeitet, aber leider nicht immer aufgearbeitet oder vernünftig nachbearbeitet.
Die erste Geschichte, „Mickey auf der geheimnisvollen Insel“ stammt von Oscar-Preisträger Ub Iwerks (und Win Smith, nach einem Szenario von Walt Disney). Iwerks Herkunft vom Trickfilm wird hier sehr deutlich: Dynamik und Erzählrhythmus nebst Auflösung der Plot-Points verweisen klar auf die Ursprünge der Figur. Nicht gut anzusehen ist allerdings die mindere Qualität der Reproduktion, die unsauber und verwaschen wirkt.
Floyd Gottfredson definierte die Figur maßgeblich
In deutscher Erstveröffentlichung folgt ein kurzer Beitrag von Floyd Gottfredson, welcher die Comic-Inkarnation der Figur maßgeblich definierte, gefolgt von einer neuzeitlichen Comic-Adaption des aus dem Jahr 1938 stammenden Trickfilms „Mickey's Trailer“ durch den bereits erwähnten Cèsar Ferioli Pelaez. Diese ist doppelt interessant, weil sie einen Vergleich mit der trickfilmbeeinflussten Iwerks-Geschichte zulässt, und dabei zeigt, wie Ferioli mittels Aufbrüchen im Seitenarrangement unter Einsatz von halboffenen Panels und der geschickten Nutzung von leeren Räumen in dynamischem Strich die Sprache des Animationsfilms in die des Comics überführt.
Dieses erfreuliche Niveau wird mit einem weiteren Erstabdruck gehalten, der Geschichte „Zehn kleine Mausejungs“ von Wilfred Haughton, die, selbst gemessen am rauen Stil der frühen Micky-Storys, mit Grobheiten gegenüber ihren Figuren nicht geizt und als englische Eigenproduktion ein kleines Kuriosum darstellt.
Wer sich bisher gefragt hat, warum Floyd Gottfredson nur mit einem zweiseitigen Beitrag vertreten ist, bekommt nun einen Klassiker serviert. In „Die Jagd nach dem schwarzen Phantom“ zeigt sich, was ein Zeichner, der Fläche und Raum versiert und kreativ zu nutzen weiß, bewerkstelligen kann. Allein der Einfall, das Phantom über den Einsatz schwarzer Flächen auch raumgreifend agieren zu lassen und somit seine Bedrohlichkeit zu potenzieren, verdient Anerkennung. Das Skript wartet mit skurrilen Todesfallen und einer gelungenen Auflösung des Kriminalfalles auf und wurde von Gottfredson unter Assistenz von Merrill De Maris selbst verfasst. Insbesondere an Hand schräger Nebenfiguren wie Inspektor Issel wird hier das Gefälle zur ermüdenden Solidität des Maus'schen Figurenparks späterer Jahre ansichtig.
Leider, leider, und das wirft wieder die Frage nach dem Konzept hinter dem Publikationsformat auf, wurde die ursprünglich in Zeitungsseitengröße veröffentlichte Geschichte formattauglich verkleinert, sodass sie kaum noch lesbar ist und ihre besonderen grafischen Finessen wie die grau gerasterten Flächen nicht mehr gut erkennbar sind.
Genervte Maus mit Leck-mich-Attitüde
Es folgen ein paar vernachlässigbare Strips von Manuel Gonzales, in denen auch Goofy auftritt, sowie zwei längere Beiträge von Paul Murry in der Übersetzung von Erika Fuchs. Zwar versprühen Letztere in ihrer zeichnerischen Steifheit einen gewissen Charme, aber eben diese Geschichten zementierten nicht nur grafisch über Jahre das Image des spießbürgerlichen Schnüfflers, das Micky Maus fortan so schwer zu schaffen machen sollte.
Abgelöst wird Murry von einem der besten italienischen Disney-Zeichner und Autoren: Romano Scarpas „Die Irokesenkette“ wartet mit einem unkonventionellen und die Kindheit von Micky thematisierenden Plot auf. Zusätzlich zu punkten weiß die Story auf Grund ihrer in leicht expressiver Strichführung angelegten Traumsequenzen, der verhaltenen Kolorierung und dem Gastauftritt der von Scarpa erfundenen Figur Atömchen.
Einer von Scarpas bekanntesten Schülern, der den hyperdynamischen Stil neuerer italienischer Disney-Produktionen bis zum Exzess auf die Spitze und noch darüber hinaus trieb, ist Giorgio Cavazzano. Seine mit Giorgio Pezzin verfasste Geschichte ist nett anzuschauen, erreicht jedoch auf Grund ihrer voraussehbaren Handlung nur einen Platz im Mittelfeld.
Kommen wir nun zu einem gleichermaßen absoluten Höhe- und Tiefpunkt dieser Anthologie: die Rede ist von Francesco Artibanis und Tito Faracis „Im Strudel der Zeit“, zeichnerisch umgesetzt von Corrado Mastantuono. Die Handlung ist als Fortsetzung des Films „Steamboat Willie“ konzipiert, in dem Micky Maus und Kater Karlo 1928 einen ihrer ersten gemeinsamen Auftritte hatten. Von einem ausgeklügelten Panelrhythmus gestützt, man beachte allein die Panelsequenz, welche die Geschichte einleitet und die 'Blut im Rinnstein'-Thesen des Comic-Theoretikers Scott McCloud auf das Anschaulichste demonstriert, wird darin ein fast schon homoerotisches Verhältnis zwischen einem leicht ins Frivole tendierenden Kater Karlo und einer ziemlich genervten Micky Maus mit Leck-mich-Attitüde angedeutet. Das Ausloten der Persönlichkeiten der beiden Ur-Kontrahenten und die gelungene Charakterisierung der Figuren überzeugen und machen sehr viel Spaß – wären da nicht die dickwulstigen Lippen zur Kennzeichnung einer offensichtlich nicht-weißen Person. Ein kritischer Kommentar des durchweg sehr kenntnisreich und umfangreich kommentierenden Gerd Syllwasschy hätte dieses Manko richten können. Allerdings ist auch eine Formulierung wie „im schwärzesten Afrika“ aus einem seiner Begleittexte zumindest diskutabel.
Nach diesen nicht ganz so erfreulichen Dingen zurück zum Inhaltsverzeichnis: Eine Episode aus den Mauser-Chroniken von Giorgio Pezzin und Massimo De Vita bietet eine zwischen Indiana Jones und Erich von Däniken pendelnde Handlung, die sowohl amüsiert als auch im italienisch hyperventilierenden Stil der Neuzeit gezeichnet ist. Konterkariert wird das actionreiche Abenteuer von der stilistisch eher an Paul Murry angelehnten Geschichte „Die Stadt des Schweigens“. Dieses von Casty geschriebene und gezeichnete Werk weiß seine Ausgangsidee einer Diktatur der Stille und die daraus resultierenden Folgen originell umzusetzen; allein, Micky, der in einer im Original im Jahr 2006 entstandenen Geschichte als Außenstehender einem unterdrückten Volk zu Hilfe kommen muss... Herrje Hergé, Entwicklungshilfe in rückwärtsgewandter Form.
Wo ist eigentlich Gamma?
„Mickys Fotoalbum“ bietet noch einmal Ferioli auf, der nach einem Skript von David Gerstein die diversen Zeichenstile aus den verschiedenen Perioden der Maus-Geschichte gekonnt adaptiert. Es folgt, nach der bereits genannten Ferioli/Erickson-Kollaboration, ein weiterer Trip Feriolis in die Vergangenheit: Floyd Gottfredsons „Das Haus der sieben Geister“ (1932/33) und das berühmteste aller Geisterjäger-Trios, bestehend aus Micky, Donald und Goofy, werden von Autor Don Markstein wiederbelebt und darin in einen wahrhaft doppelbödigen Kriminalfall verwickelt. Dieser zeigt erfreulicherweise neben witzigen Einfällen, dass man mit Klischees von vorbestraften und daher angeblich rachsüchtig agierenden Personen auch locker brechen kann.
Der Sohn des berühmten Donald Duck-Zeichners William van Horn, Noel, setzt die von psychedelischen Elementen und mit Rückgriffen auf Elemente von europäischen Science Fiction-Comics aus den 1970er Jahren durchwirkte und sozusagen multikolorierte Space Opera „Angriff der Planetenmampfer“ in Szene, die nebenher den zeichnerischen Einfluss des Vaters ansichtig macht.
Beschlossen wird der Band mit einer weiteren Geschichte Romano Scarpas nach einem Szenario von Jeff Hamill: „Ein stiller Tag am Strand“ nimmt den eigenen Titel sehr ernst und kommt daher fast völlig ohne Worte aus. In ihr werden Traumwelten in bildsprachlicher Raffinesse zusammengeführt. Besonders amüsant ist der Kommunikationsversuch eines Wesens aus einer anderen Dimension, der in Bildabstrahierungen stattfindet und damit noch einmal dezent auf den induktiven Charakter der Comics verweist. Der gruselige Schluss setzt dem ganzen dann die Schaumkrone auf.
Bleibt zu sagen, dass dieser Band trotz der aufgeführten Beanstandungen allein auf Grund seiner Widmung einer selten gewürdigten Figur und der guten Qualität vieler Beiträge empfehlenswert ist. Eine kritischere textliche Begleitung wäre jedoch für die Zukunft wünschenswert. Auf Grund der Partnerschaft mit Disney sicher ein eher schwieriges Unterfangen, alternativ muss man dann eben konsequent auf Geschichten mit fragwürdigen Inhalten oder Darstellungen verzichten. Was bei echten Perlen wie „Im Strudel der Zeit“ natürlich ein herber Verlust wäre - aber wie gesagt, man kann auch nicht so tun, als wären das marginale Probeme, wenn man als Kunstform endlich ernst genommen werden will.
Das gilt natürlich gleichfalls für den Bereich der gewissenhaften Reproduktion von Klassikern in dafür angemessenen Formaten, denn die Werke der Künstler sind das Kapital einer jeden Kunst. Mit den Big Black Books hat Egmont im Rahmen seiner Disney-Veröffentlichungen bereits Überformatiges produziert, warum also nicht auch Gottfredson?
So sind zum Abschluss als nur noch zwei Fragen offen: Wo ist Gamma? Und hätte Ignatz Maus diese Ausgabe als Wurfgeschoss verwenden können?
„Alles über Micky Maus - Vom Dreikäsehoch zum Meisterdetektiv“, 416 Seiten, 29,95 Euro
Mehr von unserem Autor Oliver Ristau lesen Sie unter diesem Link.
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