85 Jahre Micky Maus: Die menschliche Maus - Micky wird 85
Am 18. November 1928 fegte die Disney-Schöpfung zum ersten Mal über die Leinwand. So frech und aufregend wie damals ist sie als Comicfigur heute aber nur noch in Ausnahmefällen.
Er feiert und säuft mit seinen Kumpels bis zum Abwinken, spioniert heimlich seiner Frau nach, sein Lieblingswort ist „Fuck“ – und nach durchzechter Nacht zweifelt er am Sinn des Lebens. „Bin ich nur das Aushängeschild eines Vergnügungsparkes oder das Gesicht auf einem T-Shirt?“ So menschlich wie in der gezeichneten Kurzgeschichte „Boys’ Night“ hat man diesen Mäuserich schon lange nicht mehr erlebt. Die freche Erzählung des US-Autors Max Landis und der Zeichnerin AP Quach ist derzeit im Internet ein Hit – und eine der sympathischsten Gratulationen für den Jubilar. An diesem Montag ist es 85 Jahre her, dass eine Zeichentrickfigur namens Micky Maus das Licht der Welt erblickte. 85 Jahre, in denen sie zur Ikone wurde, zusammen mit dem Konterpart Donald zur bekanntesten Comic-Figur, wenn nicht Kunstfigur des Globus, und zusammen mit dem Coca-Cola-Schriftzug zum weltweit berühmtesten Symbol des American Way of Life. Bis heute ist sie Basis des Disney-Konzerns und seiner Lizenzpartner mit ihren Milliardenumsätzen. Und sie lebt auch mit 85 Jahren in ständig neu geschriebenen und wie in den Anfangsjahren immer noch von Hand gezeichneten Comic-Geschichten fort.
Anfangs sollte die Maus „Mortimer“ heißen
Mickys Karriere beginnt mit Schnaufen und Tuten, Pfeifen und Klappern. Ein Dampfschiff tuckert in einem Kinofilm den Fluss entlang, gesteuert von einer schwarzen Maus in kurzen Hosen. Gleich in der ersten Filmminute stürzt sie sich in Gefechte mit einem fetten Kater, dem Kapitän des Bootes. Zu klassischer Musik fegt die Maus über das Schiff und verwandelt alles, was ihr in die Finger kommt, in wilder Spielfreude in Musikinstrumente, einschließlich einer Ente, die im Schwitzkasten zum lebenden Dudelsack wird.
Eine Maus im Kampf gegen einen Kater, ein Klassiker, David gegen Goliath. Nur dass dieser David rabiat, überdreht und verspielt ist: So betritt Micky Maus am 18. November 1928 diese Welt, in Walt Disneys und Ub Iwerks' Zeichentrickfilm „Steamboat Willie“, einem der ersten vertonten Trickfilme der Geschichte. Es war die Zeit der amerikanischen Prohibition, die Menschen gierten nach Vergnügungen, nach Exzessen. 1925 hatte Josephine Baker erstmals ihren Bananen-Tanz dargeboten, und unten im Parkett verdrehten sich die Leiber zum Charleston. Nein, diese Urmaus war mit ihren anarchischen Zügen kein Gegenentwurf, sie war in den Zeitgeist hineingehuscht und mischte ihn auf.
Im Frühling zuvor, so die offizielle Legende, hatten der 27-jährige Walter Elias Disney und seine Frau Lillian in einem Zug gesessen, der sie von New York nach Hollywood bringen sollte. Disney hatte bereits einige animierte Stummfilme gedreht, aber der große Durchbruch war ihm bislang versagt geblieben. Die Fahrt dauerte mehrere Tage – und sie gebar eine Maus. „Mortimer“ wollte Disney sie nennen. Seiner Frau hingegen gefällt der Name „Michael“ besser, kurz: „Micky“.
Disney und sein Jugendfreund Ub Iwerks, mit dem er zusammen eine Werbefirma aufgebaut hatte, machen sich an die Arbeit. Disney schreibt, Iwerks zeichnet. Nach einem ersten, nicht sogleich öffentlich gezeigten Kurzfilm mit Live-Orgelbegleitung kommen die beiden auf die Idee, ein damals gerade erst erfundenes Verfahren auszuprobieren: Die synchrone Aufzeichnung von Ton und animiertem Bild.
„Klein Micky Maus ist sehr vergnügt / Und trinkt, bis sie am Boden liegt“
Die Premiere am 18. November 1928 im Colony-Theater am Broadway ist ein rauschender Erfolg. Ein Mann hat sein Medium gefunden, wird in der Folge zum unangefochtenen Meister des Trickfilms, vor allem aber der globalen Verwertungskette und des Merchandising. Innerhalb kurzer Zeit nach dem Durchbruch produziert Disney Dutzende weitere Kurzfilme, in denen er in späteren Jahren mit verstellt hoher Fistelstimme auch die wenigen gesprochenen Worte seiner Hauptfigur beisteuert.
Schon dieser erste öffentliche Auftritt Mickys legte die Grundlage für einen auch wirtschaftlich gigantischen Erfolg, den auch die ein Jahr später eintretende Weltwirtschaftskrise nur vorübergehend bremsen konnte. Und Mickys Hausse hält an: Walt Disney, nach Time Warner der zweitgrößte Unterhaltungskonzern der USA, fährt Jahr für Jahr Milliardengewinne ein. Zum Imperium gehören Vergnügungsparks und Filmstudios, die Kassenschlager wie „Fluch der Karibik“ produzieren, dazu der Fernsehsender ABC, Anteile an ausländischen Stationen wie Super RTL, eine Kreuzfahrtlinie – und rund 60000 Lizenzen für das weltweite Micky-Merchandising in Form von Krawatten und Duschvorhängen, Badeschaum oder BHs.
Ab 1929 erscheinen in einer schnell wachsenden Zahl amerikanischer Zeitungen gezeichnete Comic-Abenteuer von Micky, Kater Karlo und Goofy. Anfangs fungiert Disney auch hier als Texter und Erzähler, Ub Iwerks als Zeichner. Aber schon bald übernimmt Disney-Mitarbeiter Floyd Gottfredson diesen Job und prägt für die nächsten 45 Jahre die Zeitungsstrips von Micky Maus. Er war ein Meister des Slapsticks und des anarchischen Humors, kürzlich wurde eine Auswahl seiner Arbeiten neu veröffentlicht.
In Deutschland erscheinen bereits 1930 die ersten Micky-Maus-Geschichten in der „Kölnischen Illustrierten Zeitung“. Disneys Lizenzvorgaben sind damals offenbar noch lockerer als in späteren Jahren. Eine Postkarte aus den frühen 1930er Jahren zeigt die Maus beim Rauchen und Saufen, dazu ein Text, der den ausschweifenden, ungezügelten Zeitgeist jener Jahre reflektiert: „Klein Micky Maus ist sehr vergnügt / Und trinkt, bis sie am Boden liegt“.
„Unerfreuliche Neigung zu Spießigkeit und Besserwisserei“
Als die Welle der Disney-Kurzfilme nach Deutschland schwappt, löst das einen ungeahnten Boom aus. Über Wochen sind die Kinovorstellungen der 50 Micky-Maus-Filme ausverkauft, die bis zum von Disney aus einer Art Protest gegen das Nazireich verfügten Lieferstopp 1935 die Filmprüfstelle des Reiches passieren.
Selbst Adolf Hitler zählt zu Mickys Verehrern. Zwar soll ihm die Disney-Version von „Schneewittchen“ noch besser gefallen haben, aber auch die damals noch chaotischen, anarchistischen Abenteuer der Maus scheinen den Vorstellungen des Diktators von Ordnung und Anstand nichts anhaben zu können. Das geht aus vor einigen Jahren veröffentlichten Goebbels-Aufzeichnungen hervor, der 1937 in sein Tagebuch schrieb: „Ich schenke dem Führer zwölf Micky-Maus-Filme zu Weihnachten! Er freut sich darüber. Ist ganz glücklich über diesen Schatz.“ Als Micky im Zweiten Weltkrieg in amerikanischen Propagandafilmen und -comics auftritt – unter anderem als Bomberpilot, der deutsche Städte attackiert –, dürfte die Liebe des Diktators zur Maus abgekühlt sein.
Mit der Maus von damals hat das Disney-Markenzeichen späterer Jahrzehnte nur noch äußerliche Ähnlichkeit. Das Freche, Wilde, Ungestüme, aber auch Oberflächliche der Anfangsjahre, das man vor allem in den Trickfilmen, aber auch in den Comics der ersten zwei, drei Dekaden findet, weicht in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nach und nach einer Ernsthaftigkeit und Ordnungsliebe, die Fernsehmoderatorin und Donald-Duck-Verehrerin Hella von Sinnen später zu dem Urteil bewegt, die als Tausendsassa gestartete Maus sei zur „langweiligen Klugscheißerin“ mutiert.
Bereits 1944 – im gleichen Jahr, in dem die alliierten Truppen für ihre Landung in der Normandie das Codewort „Mickey Mouse“ benutzen – tauschen Disneys Zeichner Mickys kurze Hose gegen lange Beinkleider und verpassen ihm Hemd und Hut. Für derbe Späße ist fortan Goofy zuständig, Mickys tollpatschiger Freund. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte Micky „eine unerfreuliche Neigung zu Spießigkeit und Besserwisserei“, sagt der für die deutschen Micky-Maus-Übertragungen zuständige Comic-Redakteur Joachim Stahl. Die mit Wiederaufbau, Wirtschaftsaufschwung und der Rückkehr zu traditionellen Sekundärtugenden einhergehende Nachkriegsmoral hinterlässt auch hier ihre Spuren.
„Micky verkörpert, was wir zu sein wünschen“
Anfang der 50er Jahre macht sich die zweite globale Micky-Maus-Welle auch in Deutschland bemerkbar. 1951 erscheint hierzulande das erste „Micky Maus“-Heft mit Kurzgeschichten aus amerikanischer Produktion. Schon kurze Zeit später folgen der Micky-Maus-Zeitschrift mehrere Versuche aus anderen Verlagen, dem amerikanischen Giganten etwas Deutsches entgegenzusetzen: Auf bundesrepublikanischer Seite die Abenteuer der vom Verleger Rolf Kaduk erdachten Comic-Füchse Fix und Foxi, in der DDR die Digedags mit ihren in der Heftreihe „Mosaik“ veröffentlichten Geschichten.
Als die von Disney propagierten Familienwerte in den 60er Jahren sowohl in den USA als auch in den meisten europäischen Ländern durch Studentenproteste, Emanzipation und Rock'n'Roll auf die Probe gestellt werden, gerät die Figur der Maus in ihre Midlife-Crisis. „In den 60er Jahren ging es mit Micky bergab“, sagt Micky-Maus-Autor und Redakteur Erickson, der jährlich Hunderte von Micky-Maus-Comicseiten für den europäischen Markt schreibt oder bearbeitet.
Der – für ein erwachsenes Publikum geschaffene – Draufgänger der frühen Jahre, der witzig und anarchistisch, aber auch schadenfroh und grausam sein konnte, hatte sich mit seiner wachsenden Popularität den Erwartungen eines – zunehmend aus Kindern bestehenden – Massenpublikums anzupassen, das nach Disneys strengen Vorgaben Provokateure höchstens als Nebenfiguren duldete, die man hin und wieder mit altklugen Sprüchen zur Vernunft rufen musste. 1968 erschien der erste Asterix-Band von René Goscinny und Albert Uderzo auf Deutsch, und gegen den gallischen Antiimperialismus mit seinen satirischen Anspielungen, seinem subtilen Humor und rebellischen Klamauk hat die inzwischen altkluge und allzeit vernünftige Maus keine Chance. Micky Maus hörte die Beatles, die Revolte war woanders.
Wer in jenen Jahren mit Disneys Figuren aufwuchs, lernte schon bald, dass man sich entscheiden musste, wem man näherstand: Dem schlauen, aber zu Spießigkeit neigenden Micky? Oder dem vom Schicksal gebeutelten Stehauf-Erpel Donald? Für Comic-Autor Byron Erickson steht die Dichotomie für die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit: „Micky verkörpert, was wir zu sein wünschen, also mutig oder klug. Donald verkörpert, was wir zu sein befürchten.“
Für Seyfried war Micky Maus eine Law-and-Order-Figur
Gerhard Seyfried, deutscher Underground-Comic-Pionier und in letzter Zeit vor allem als Autor historischer Romane bekannt, gehört bis heute dem Donald-Lager an. „Micky war für uns ein Spitzel, eine Law-and-Order-Figur, die mit den Bullen zusammenarbeitet und Kommissar Hunter hilft, den ‚Comic Moral Code'; wiederherzustellen“, erinnert sich der Zeichner an die 70er und 80er Jahre, in denen er seinen Ruf als Chronist der linksalternativen Szene begründete. „Aber Donald war uns als Pechvogel, als Mann von der Straße einfach sympathischer.“
In den 70er und 80er Jahren spaltet sich die Lebensgeschichte der Maus in mehrere Stränge. In den USA fungiert sie zunehmend nur noch als Werbeträger für Disney-Merchandising und Vergnügungsparks, hat aber als Comicfigur ihre Bedeutung verloren. In Europa hingegen wächst in jenen wirtschaftlich prosperierenden Jahren eine eigene Micky-Maus-Comic-Kultur heran, getragen von einer wachsenden Zahl europäischer Zeichner und Autoren, die Disneys Erbe fortsetzen. Bis heute werden in Ateliers quer durch Europa Micky-Maus-Geschichten geschrieben und wie in den Anfangsjahren per Hand gezeichnet. In Deutschland erscheinen sie vor allem in der mit redaktionellen Beiträgen und Spielzeug-Gimmicks aufgepeppten Kinderzeitschrift „Micky Maus Magazin“ und in den für etwas ältere Leser konzipierten „Lustigen Taschenbüchern“.
Für Autoren und Zeichner, die Micky Maus bis heute in gezeichneten Detektiv- oder Abenteuergeschichten am Leben erhalten, ist die Figur eine Herausforderung: „Es hat eine Zeitlang gedauert, bis ich mit ihr warm geworden bin“, bekennt Comiczeichner César Ferioli im Gespräch in seinem Atelier in Barcelona. Der 1959 geborene Spanier mit den kräftigen Augenbrauen und dem warmen Lachen gehört zu jenen Zeichnern und Autoren, die in den vergangenen Jahrzehnten jene Micky Maus geprägt haben, wie sie das heutige deutsche Publikum aus Comic-Heften und Büchern kennt. „Man muss bei Micky sehr aufpassen, dass man die Figur nicht zu höflich und zu ernsthaft agieren lässt“, sagt der Zeichner. Bei Donald hingegen bestehe die Gefahr nicht, weil der sympathische Verlierer von seinem prägenden Zeichner Barks schon früh als komplexere Figur angelegt wurde.
Ferioli gehört zu jener Generation neuer Micky-Zeichner und -Autoren, die Anfang der 1990er eine kleine Revolution in Entenhausen gestartet hat, weil sie fanden, dass die Maus in einer kreativen Sackgasse gelandet war. Vor allem der Redakteur Byron Erickson bricht mit mancher zur Routine geronnenen Tradition, so mit jener, die vermenschlichte Maus mit langer Hose, Hemd und Hut zu zeichnen. Er steckt Micky zurück in jene kurzen Hosen, die die damals noch auf Krawall getrimmte Figur am Anfang trug, mit nackten Beinen, nacktem Oberkörper und auf ihre Grundform reduziert.
Neben der traditionellen Optik betonen Byron und die neue Generation der Zeichner und Autoren die Persönlichkeit von Micky und versuchen, statt vorhersagbarer Abenteuer und immergleicher Witz- und Detektivgeschichten den Charakter der Figur in den Mittelpunkt zu stellen, Mickys Reaktionen auf unerwartete Situationen und seinen Umgang mit unterschiedlichen Freunden und Gegenspielern.
Wie lange es der jugendlich wirkende Mausegreis in seinem bonbonfarbenen Bilderbuchuniversum noch macht? Ob er in 15 Jahren vielleicht gar seinen 100. Geburtstag feiert? Es wird immer schwerer, nachwachsende Generationen für Micky zu gewinnen. „Der generelle Rückgang beim Lesen ist unser größtes Problem“, sagt Autor Erickson. „Und gegen Medien wie Fernsehen, Internet oder Computerspiele haben wir langfristig keine Chance. Ich bin skeptisch.“
Hinweis: Teile des Artikels wurden aus einem Artikel desselben Autors zum 80. Jahrestag von Micky Maus von 2008 übernommen.
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