Choreografin Lucinda Childs: Die Magie der Mathematik
Lucinda Childs ist die Hohepriesterin des Minimal Dance. Eine Begegnung mit der legendären Choreografin, die das Berliner Festival "Tanz im August" eröffnet.
Lucinda Childs ist mittlerweile in einem Alter, bei dem man von ihr als einer Ikone der Tanzavantgarde spricht. Doch die 75-jährige New Yorkerin, die immer noch diese unfassbare Coolness besitzt wie als junge Tänzerin, gehört noch längst nicht zum alten Eisen. Zwar musste sie ihre Company immer wieder auflösen, zuletzt arbeitete sie zwischen 2000 und 2008 ohne Ensemble. Doch sie hat die Kurve hinbekommen und feiert nun Triumphe mit Werken, die mehr als 30 Jahre alt sind. Die Festivals reißen sich um die Choreografin, die als Hohepriesterin des Minimal Dance gilt.
Das Revival von „Available Light“ erlebte am vergangenen Mittwoch seine Europa-Premiere beim Sommerfestival auf Kampnagel. Mit dem bahnbrechenden Werk aus dem Jahr 1983 wird am Donnerstag auch der Berliner Tanz im August eröffnet. Sie selbst ist etwas überrascht von der überwältigenden Resonanz und freut sich über das neu erwachte Interesse: „Es ist der richtige Zeitpunkt für ein Wiedersehen mit dem Stück. Jetzt oder nie!“
Mit dem Rekonstruieren früherer Werke hat sie bereits Erfahrungen gesammelt. Als sie 2009 ihr Stück „Dance“ von 1979 mit Filmaufnahmen von Sol LeWitt und Musik von Philipp Glass wiederaufnahm, gründete sie dafür ein eigenes Ensemble. Mit „Dance“ tourt die Company heute noch. 2012 folgte das Remake von „Einstein on the Beach“. Das legendäre Musiktheaterprojekt von 1976 war Childs erste Zusammenarbeit mit Robert Wilson und Philipp Glass, die Aufführungen im Haus der Berliner Festspiele wurden umjubelt. Mit „Available Light“ hat sie nun ein weiteres Schlüsselwerk neu einstudiert.
„Available Light“ vereinte drei Avantgarde-Künstler
Durch ihre Kollaborationen mit bildenden Künstlern und Komponisten wurde Childs international bekannt. Auch „Available Light“ vereinte drei Avantgarde-Künstler: Die Musik komponierte John Adams, ein Vertreter der Minimal Music, das Bühnenbild entwarf der Architekt Frank O. Gehry. Die Auftragsarbeit des Museum of Contemporary Art in Los Angeles wurde in einem alten Industriegebäude uraufgeführt. Damals wurde vor allem Tageslicht benutzt – daher der Titel.
Gehry konstruierte eine raffinierte doppelstöckige Bühne, die an einen gigantischen Metallkäfig erinnert. Die erhöhte Ebene ruht auf fünf zierlichen Stahlträgern und wird rückwärtig von Maschendraht begrenzt. Sie ist zudem leicht angeschrägt. Childs erzählt, wie es zu dem ungewöhnlichen Bühnendesign kam. „In ,Dance' gefiel mir die Verdoppelung: Die Tänzer waren im Film und auf der Bühne zu sehen. Um einen ähnlichen Effekt zu erzielen, haben wir beschlossen, eine zweite Ebene einzuziehen.“ Das Set musste schon früher an die Proszeniumsbühne anpasst werden. Für die Neueinstudierung hat das Büro von Gehry den Entwurf nochmals leicht überarbeitet. Die Choreografie folgt im Wesentlichen dem Original. Beim Rekonstruieren eines Tanzstücks nutzt Childs nicht nur die Videos von damals – „Die sind schrecklich“ –, sondern ihre Aufzeichnungen, die „scores“. Im nächsten Jahr plant sie eine Ausstellung in Paris mit diesen Zeichnungen.
Lucinda Childs und ihre Methode des Minimal Dance
Die sechziger Jahre – eine mythische Dekade. Wenn man Childs auf ihre Zeit beim Judson Dance Theater anspricht, dem sie von 1963 bis 1968 angehörte, seufzt sie: „50 Jahre ist das her! Es fühlt sich gar nicht so an.“ Rückblickend sagt sie: „Es war eine fantastische Zeit. Die Tanzwelt war schockiert über das, was wir machten: Wir benutzten ganz untänzerisches Vokabular wie gehen oder essen.“ Es war eine Gruppe mit lauter starken Persönlichkeiten, bestätigt Childs. „Und dann sind wir alle unseren eigenen Weg gegangen.“
Inspiriert zunächst von der minimalistischen Kunst entwickelte sie ihre Methode des Minimal Dance. Dem Judson-Spirit fühlt sie sich heute noch verpflichtet: „Der Inhalt ist nicht das einzig Wichtige. Sondern was du mit dem Material machst und wie du es machst.“ In einer minimalistischen Weise zu arbeiten, findet sie durchaus aufregend. „Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wenn man genau hinschaut.“
Wie Childs aus einfachem Schrittmaterial komplexe Bewegungsmuster generiert, ist faszinierend. Grundlage ist ein ausgetüfteltes mathematisches Kompositionsverfahren. Die Phrasen scheinen sich unentwegt zu wiederholen, doch der aufmerksame Betrachter kann die minimalen Variationen erkennen, die durch Veränderungen in Rhythmus und durch Richtungswechsel entstehen. „Meine Stücke sind sicher herausfordernd für die Zuschauer“, sagt Childs. „Aber sie müssen die mathematischen Strukturen nicht verstehen. Mathematik ist nur ein Werkzeug, das ich benutze.“
Die Wahrnehmung von Zeit verändert sich
Durch die Rekonstruktion fällt ein neues Licht auf „Available Light“. Nun wird die Choreografie von jungen Tänzern interpretiert, die ganz anders trainiert sind. Sie wirken athletischer und tanzen einheitlicher. Die Lässigkeit, die die Tänzer in den Siebzigern besaßen, haben sie nicht. „Das waren andere Zeiten!“, sagt Childs und lächelt. „Ich habe meinen Tänzern gesagt: Versucht nicht, das zu kopieren!“
In „Available Light“ verlässt keiner der elf Tänzer die Bühne, nur einige wechseln auf die obere Ebene, wo sie besonders exponiert und erhöht sind. Der Zuschauer konzentriert sich vor allem auf das Beziehungsgefüge, die wechselnden Korrespondenzen zwischen den Tänzern in Rot, Schwarz und Weiß – auch die zwischen oben und unten. Alle sind fest eingebunden in die choreografische Ordnung. „Sie sind der Struktur unterworfen, aber sie haben Freude daran“, betont Childs. Bei aller formalen Strenge entwickeln die Choreografien einen hypnotischen Sog. Es ist nicht nur brillant, wie sie den Raum organisiert – sie vergleicht mit zwei Diamanten, die sich ineinanderschieben. Auch die Wahrnehmung von Zeit verändert sich beim Betrachten ihrer Tanzstücke. „Das passiert auf jeden Fall bei Musik von Philipp Glass: Du wirst aus deinem normalen Zeitempfinden herausgerissen.“ Sie sei nicht sehr spirituell, bekennt Lucinda Childs. Aber Kunst, davon ist sie überzeugt, muss sich aus dem alltäglichen Leben herausheben.
Haus der Berliner Festspiele, 13. bis 15. August, 20 Uhr.
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