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Ritter der Ehrenlegion. Michel Houellebecq, geboren 1956, im November 2014 vor dem Pariser Pavillon Carré de Baudouin.
© Miguel Medina/AFP

"Serotonin" von Michel Houellebecq: Die letzte Karte spielen

Bekenntnisse eines impotenten Erotomanen: Michel Houellebecq und sein Roman „Serotonin“.

Seine sich verfinsternde Welt lebt von so ziemlich jeder Provokation – nur nicht von Überraschungen. „Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was getan wurde, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne“, lautet die alttestamentarische Weisheit aus dem Buch der Prediger, der sich Michel Houellebecq, um einige nietzscheanische Drehungen auf den aktuellen spätkapitalistischen Stand gebracht, bedenkenlos anschließen könnte.

Wobei die Sonne nicht erst in „Serotonin“, seinem nunmehr siebten Roman, kaum noch scheint. Für Florent-Claude Labrouste, den schon mit einem ungesunden Selbsthass auf den eigenen Namen ausgestatteten Ich-Erzähler, geht es um den Eintritt in eine „Nacht ohne Ende“. Von einem Antidepressivum seiner Libido beraubt, weil der Anstieg des Serotoninspiegels mit einer Absenkung der Testosteronwerte einhergeht, steuert der 46-Jährige von einer melancholischen Rekapitulation seiner früheren sexuellen Ausschweifungen geradewegs auf den Bilanzselbstmord zu.

Er vereint Trübsinn und Erotomanie, die in „Elementarteilchen“ noch auf zwei Halbbrüder verteilt waren. Er ist ein Nachfahr des suizidären Pariser Kulturministeriumsbeamten, der in „Plattform“ sein Heil unter den Massagegirls von Pattaya Beach suchte. Er ähnelt dem bindungsunfähigen Liebessucher aus „Die Möglichkeit einer Insel“. Kurz, um ein im Übermaß verwendetes Wort seiner Erinnerungen zu verwenden: Er trägt alle Züge Houellebecq’scher Alter Egos.

Unterschichtenblues und Wohlstandsverzweiflung

„Serotonin“ ist eine gigantische Wiederaufbereitungsanlage von Ideen, die Michel Houellebecq seit bald 30 Jahren umtreiben. Der bierselige Unterschichtenblues, wie er in seinen Gedichten „Suche nach Glück“ steckte, hat allerdings einer zynischen Wohlstandsverzweiflung mit teuren Schnäpsen Platz gemacht, und der klare Blick auf die Ermüdungserscheinungen eines konsumistischen Liberalismus, wie er sich in den Essays „Die Welt als Supermarkt“ findet, einer Annäherung an identitäre Positionen.

Gleich ob man darin einen Mangel an Einfällen oder eine geschlossene Weltanschauung erkennen mag – die Formel H ist offensichtlich: Du sollst von Anfang an alle Hoffnung fahren lassen und die Dinge von ihrem unausweichlichen Ende her denken. Du sollst den Menschen im Ausgeliefertsein an seine Körperlichkeit betrachten. Du sollst die Geschlechtsteile und ihre Verrichtungen möglichst oft bei ihren gewöhnlichsten Namen nennen. Du sollst hinter jeder Art von Befreiung ein neues Gefängnis erkennen. Und: Du sollst im Bewusstsein schreiben, dass wir ein Leben aus zweiter Hand führen.

Das monströse Mittelmaß, innerhalb dessen Houellebecq seine Größe entfaltet, haushaltet von daher mit kulturellen Fertigteilen. Jede Geste hat ihren filmischen Vorläufer, jede Konstellation ihren literarischen Bezugspunkt. Hier hat sich Inspector Columbo eingeschmuggelt, dort melden sich Nikolai Gogols „Tote Seelen“ zu Wort. Man kann das in jenem Sinn für postmoderne Ironie halten, in dem sich Houellebecq in „Die Möglichkeit einer Insel“ zu einem „Zarathustra der Mittelschicht“ stilisierte. In „Serotonin“ gibt das Bewusstsein, sich in einer kulturellen Nachspielzeit zu befinden, in der nichts genuin Schöpferisches mehr möglich ist, vordergründig eher Anlass zu zusätzlicher Bedrückung.

Sex mit einem Dobermann

Florent-Claude Labrouste ist bei alledem kein Künstler, er ist – wie seinerzeit Houellebecq – ein Agronom. Wenn ihn der Leser nach einem kurzen Prolog kennenlernt, steht er noch in den Diensten des französischen Landwirtschaftsministeriums. Er verfasst Berichte über die traurige Lage der Aprikosenzüchter im Roussillon, die sich gegen den Vormarsch argentinischen Obstes verteidigen müssen. Seine opulenten Honorare erlauben es ihm, das Totem-Hochhaus im 15. Pariser Arrondissement zu bewohnen – und überdies seine japanische Freundin, die 20 Jahre jüngere Yuzu, zu alimentieren.

Sein explodierendes Desinteresse an ihrem Luxuskörper steigert sich zum Wunsch, sie um jeden Preis loszuwerden, als er entdeckt, dass sie sich in seinem Apartment nicht nur beim Gangbang, sondern auch beim Kopulieren mit einem Dobermann hat filmen lassen. Und so macht er sich aus seinem Leben eines Tages einfach davon: gegenüber seinem Arbeitgeber unter dem Vorwand, im Ausland eine neue Aufgabe gefunden zu haben, heimlich gegenüber Yuzu.

Houellebecqs Held ist eines jener unglückseligen Wesen, die zu hundert Prozent zwischen den Beinen und zu hundert Prozent zwischen den Ohren denken, ohne dass ein leibseelischer Verstand dabei vermitteln würde. Sobald das Triebgeschehen erlahmt und nur noch ein trauriger Rest geistiger Aktivität übrig bleibt, ist die Katastrophe perfekt. Eine kalte pornografische Imagination übernimmt das Regiment und tobt sich mit allen Klischees aus.

Vielleicht lässt sich das noch als Anrufung einer Transzendenz inmitten der trostlosen Immanenz rechtfertigen oder als Sehnsucht nach einer Auferstehung des Romantischen aus dem tiefsten Dreck. Doch man muss nicht ins Moralisieren geraten, um anders als der Erzähler zu bezweifeln, dass es sich um eine Liebe handelt, die mit der Bindung von zwei Menschen zu tun hat. Die Liebe seines Lebens, die Florent-Claude mit einer gewissen Camille erlebt zu haben glaubt, gestaltet sich zumindest auf dem Papier weitgehend als Bettgeschichte, die er zugunsten einer Jamaikanerin mit einem „hübschen kleinen schwarzen Hintern“ verrät. Oder soll das ein weiterer Beweis für die angeblich schicksalhafte Gewalt sein, die Paare auseinanderreißt?

Misanthropische Riesenkolumne

Über weite Strecken hat „Serotonin“ den Charakter einer sich von Frau zu Frau, Episode zu Episode und Pointe zu Pointe vorarbeitenden misanthropischen Riesenkolumne. Sie enthält gelungene Running Gags wie den Versuch des Erzählers, seiner Nikotinsucht in rauchfreien Hotels zu frönen – notfalls unter mutwilliger Zerstörung des Rauchmelders. Sie birgt eine ordentliche Portion Situationskomik, wenn Florent-Claude Yuzus Koffer absichtlich in der Hotellobby stehen lässt und befriedigt feststellt, dass sie daraufhin für den Rest des Abends kein Wort mehr mit ihm wechselt. Und sie ergeht sich in Hohnreden gegen verwöhnte „Schlampen“ (zu denen auch die Europäische Union zählt) und der mokanten Lobpreisung williger Moldawierinnen, die den echten Mann vor übertriebenem weiblichen Selbstbewusstsein schützen.

Ungewöhnlich wird es da, wo Houellebecq aus dem Glossieren heraustritt und eine existenzielle Bitterkeit wagt, die im allgemeinen Parlando sonst nur behauptet wird. „Wer nicht den Mut hat zu töten, hat nicht den Mut zu leben“, heißt das Motto, das seinen Erzähler bewegt, nachdem er mit einem Scharfschützengewehr seines besten Freundes, des Milchbauern Aymeric, schießen gelernt hat. Doch als er darangeht, Camilles vierjährigen Sohn aus der Ferne mit seinem Steyr Mannlicher wie ein Tier zu erlegen, um sich als erstes Objekt ihrer Liebe von Neuem zu empfehlen, sackt er nach einer Viertelstunde vor dem Zielfernrohr in sich zusammen. Das selbsterklärte Weichei ist ein Weichei geblieben.

Etwas Kränkeres hat Houellebecq nie erfunden. Und doch könnte es sich dabei weniger um die radikaldarwinistisch ausgesponnene und gleich wieder durchgestrichene Ultima Ratio eines Dostojewski-Adepten handeln als um einen billigen Effekt. Der Verdacht, dass die Spott- und Selbstverspottungstiraden von „Serotonin“ nicht wirklich ernst gemeint sind, verliert sich nie. Das betrifft die globalisierungskritischen Einlassungen zur Situation der französischen Landwirte und die Vorwegnahme eines Gelbwestenaufstands wie die Exkurse zur Massentierhaltung – und mehr als alles andere den theologischen Überbau.

Theologischer Überbau

Schon Houellebecqs letzter Roman „Unterwerfung“, der mit wesentlich größerem Raffinement ein islamisch regiertes Frankreich herbeifantasierte, beruhte auf Vorstellungen des renouveau catholique. Gegenüber Agathe Novak-Lechevalier bekannte Houellebecq sogar: „Ich bin katholisch in dem Sinn, in dem ich den Schrecken einer Welt ohne Gott zeige.“

Der neue Roman gefällt sich darin, die nihilistisch gewendete Variante einer philosophisch unter dem Begriff „spes contra spem“ zu Ruhm gekommenen Haltung zu entwickeln. Was Paulus im Römerbrief (4:18) als Festhalten an einer Glaubenshoffnung wider alle Hoffnung beschreibt, wird bei Houellebecq zu einem finsteren Gegenglauben.

Er empfindet „weit weniger als eine Hoffnung, nennen wir es eine ,Ungewissheit‘. Man könnte auch sagen, dass, selbst wenn man persönlich das Spiel verloren, wenn man seine letzte Karte ausgespielt hat, bei manchen – nicht bei allen, nicht bei allen – noch der Gedanke bestehen bleibt, dass etwas im Himmel die Dinge wieder in die Hand nehmen, willkürlich entscheiden wird (…), obgleich man nie, in keinem Augenblick seines Lebens, das Eingreifen oder auch nur die Gegenwart einer wie auch immer gearteten Gottheit gespürt hat“. Das Kalkül, mit dem Michel Houellebecq „Serotonin“ geschrieben hat, beweist, dass er den irdischen Kräften zumindest bei der vorübergehenden Rettung seiner Seele noch immer am meisten vertraut.

Michel Houellebecq: Serotonin. Roman. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. DuMont, Köln 2019. 336 Seiten, 24 €.

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