"Stella" von Takis Würger: Die Last mit der Wahrheit
Sie nannten sie das blonde Gift vom Kurfürstendamm: Takis Würger spürt der jüdischen Verräterin und Greiferin Stella Goldschlag nach.
Am Ende, als sie sich noch einmal sehr nahe sind, aber auch schon kurz davor, sich zu trennen, als er im Begriff ist, Nazi-Berlin zu verlassen und weiß, was für eine Schuld Stella Goldschlag auf sich zu laden bereit ist, versucht der Ich-Erzähler Friedrich, dem Wesen seiner Freundin nachzuspüren. Ihren vielen Rollen, in die sie geschlüpft ist, „das Aktmodell, die Sängerin mit der dünnen Stimme, die Schönheit in meiner Badewanne, die Büßerin, die Lügnerin, das Opfer, die Täterin“.
So wie sich der Held in Takis Würgers Roman „Stella“ fragt, welche Rolle im Leben seiner Freundin/Frau eigentlich die tragende ist, dürften viele Menschen bei der Nennung des Namens Stella Goldschlag zunächst rätseln: Wer ist oder war das denn? Obwohl es Anfang der neunziger Jahre schon mal ein Buch über sie von einem ihrer Mitschüler gab, der ihr Leben nachrecherchiert und sie persönlich getroffen hatte, Peter Wyden, eine daraus gefilterte „Spiegel“-Serie, überdies einen Dokumentarfilm und vor drei Jahren gar ein Musical in der Neuköllner Oper in Berlin, sind Goldschlags Name und Leben nicht besonders bekannt.
Was daran liegen mag, dass Stella Goldschlag das Böse repräsentiert. Zumal von einer Seite, mit der dieses Böse in Zeiten des Nationalsozialismus nicht assoziiert wird: von der Opferseite, der jüdischen. Goldschlag, geboren 1922 als einzige Tochter der Konzertsängerin Toni Goldschlag und ihres Mannes Gerhard, eines Journalisten, Komponisten und Dirigenten, war von 1943 bis 1945 eine sogenannte Greiferin. Sie verriet der Gestapo untergetauchte jüdische Mitbürger, auf dass diese interniert oder deportiert werden konnten. Ihre mutmaßliche Motivation zu Beginn: die eigenen Eltern vor dem Transport in ein Konzentrationslager bewahren. Obwohl Stella Goldschlag das nicht gelang, arbeitete sie bis zum Ende des Krieges als Greiferin.
Würger hat sich fiktive Freiheiten genommen
Doch wie einem so widersprüchlichen Menschen nahekommen? Wie so ein Leben erzählen? Ein Leben, das ja eine Vorgeschichte hat (unter anderem die einer Familie, die sich assimiliert und sicher glaubte) und nach dem Zweiten Weltkrieg turbulent und tragisch weiterging, mit einer Verurteilung zu zehn Jahren Haft, die Goldschlag in diversen Einrichtungen der sowjetischen Besatzungszone absaß, mit mehreren Ehen – und das 1994 mit einem Selbstmord endete. Würger konzentriert sich auf das Jahr 1942, in dem sie wegen ihres Aussehens mit blonden Haaren und blauen Augen in Berlin nicht als Jüdin auffällt. Im Roman lässt sie sich schon in diesem Jahr von der Gestapo einspannen, um einen jüdischen Passfälscher zu verraten. Gestapo-Kollaborateurin wurde sie allerdings erst 1943, nach der sogenannten Fabrikaktion, bei der sie entkam, und der darauf folgenden Begegnung mit ihrem zweiten Mann Rolf Isaaksohn.
Der 1985 im niedersächsischen Hohenhameln geborene „Spiegel“-Reporter Takis Würger, der vor zwei Jahren mit „Der Club“ als Romanautor ziemlich erfolgreich debütierte, hat sich für seinen zweiten Roman fiktive Freiheiten genommen. Vor allem beginnt er mit einer erfundenen Figur, die im selben Jahr wie die junge Jüdin geboren wird und in der Nähe des Genfer Sees in einem großbürgerlichen Ambiente aufwächst: eben jenem Friedrich, dessen Mutter nicht nur Alkoholikerin, sondern auch eine glühende NS-Anhängerin ist. Friedrich zieht es mit 20 Jahren nach Berlin. Er hatte gehört, wie die Stallburschen bei sich zu Hause ehrfürchtig vom Berliner Nachtleben redeten, von den vielen Drogen, und auch davon, dass es in der deutschen Hauptstadt Möbelwagen gebe, die Juden aufgriffen und abtransportieren.
Sie liebt die Genüsse, die ihr ein SS-Scherge verschafft
Würgers Held will dieses Nachtleben kennenlernen – und er will den Gerüchten über die Judentransporte nachgehen. Er ist auf juveniler Wahrheitssuche, dieses Motiv durchzieht den gesamten Roman. In Berlin lernt er Stella kennen, die sich Kristin nennt, und verliebt sich in sie. Er erlebt sie als Model für angehende Künstler, als Sängerin in einem Nachtclub; er bemerkt, wie beeindruckt sie ist von dem Ambiente, in dem er abgestiegen ist, das dem Adlon nachempfundene Grand Hotel am Pariser Platz. Und wie sie die Genüsse liebt, die ihr der SS-Scherge Tristan von Appen verschafft.
Takis Würger, das wird schnell offenbar, versucht, das Urbane, Dekadente, Verruchte Berlins einzufangen, mit Sprüchen von Litfaßsäulen, Szenen in einem Jazzclub oder der Wohnung von Appens mit französischer Haushälterin und Käse- und Weinimporten. „Berlin war laut“, heißt es einmal.
Natürlich lässt sich darüber streiten, ob man das Berlin der zwanziger Jahre umstandslos in das der Kriegszeit übertragen kann. Und ob das der ideale Zugang zu einer Figur wie Stella Goldschlag ist, zu deren Herkunft und Greiferinnenbiografie. Andererseits gibt es da diese andere Seite von Goldschlag, den Versuch, ihrer Herkunft und den Opferzuschreibungen zu entkommen, eine Jazzsängerinnen-Karriere in den USA einzuschlagen, ein Leben auf der Überholspur zu führen. Dafür war sie vermutlich zu einigem bereit.
Um sich auf seine Binnengeschichte mit Stella und Friedrich konzentrieren zu können, auf das moralische Dilemma, in das Friedrich gerät, hat Würger seinen Roman zum einen mit monatlichen Zeitleisten des Jahres 1942 versehen. Stichwortartig bildet er hier Irrsinn und Brutalität der NS-Diktatur, des nationalsozialistischen Alltags und des Krieges ab (zwischendrin werden allerdings auch die Geburten von Paul McCartney, Roger Chapman, Cassius Clay oder Wolfgang Schäuble angezeigt, warum auch immer).
Zeugenaussagen sind kursiv hineinmontiert
Zum anderen hat er Zeugenaussagen und Fälle der von Goldschlag verratenen Juden in seine Erzählung montiert, als kursiv gesetzte Passagen, Auszüge aus den Verhandlungen des sowjetischen Militärtribunals über Goldschlag. Sie antwortet da am Ende, am 8. März 1946, auf die Frage nach ihrer Schuld, „dass die einzigste Schuld und das einzigste Verbrechen, welches ich begangen habe, das war, dass ich mich als Jüdin in einen Außendienst der Gestapo stellen ließ“. Durch diese kommentarlosen Einzüge schafft es Würger, seinen Roman schlank und knapp zu halten. Das kommt seiner Sprache, seinem handwerklichen Können entgegen, wobei man ihm den Reporter des Öfteren anmerkt. Da ist er dann arg auf den Effekt bedacht mit letzten knackigen Sätzen vor einzelnen Kapiteln oder Absätzen. So schreibt er einmal: „Es war die Zeit der Ausrufezeichen“ – doch setzt er diese selbst gern mit betont sinnfälligen, einzelne Motive zielsicher wieder aufnehmenden Sätzen.
Der Vorzug seiner Stella-Geschichte besteht in der Figur ihres zweifelhaft-schwächlich-ambivalenten Erzählers („Ich war in dieses Land gekommen, weil ich mir gewünscht hatte, dass die Stärke Deutschlands auf mich überspringt“), den die Liebe sanft und manchmal blind macht. Immerhin zweifelt Friedrich, ob es nun richtig oder falsch ist, „einen Menschen zu verraten, um einen anderen zu retten“, ohne sich entscheiden zu können, ja, ob bei den vielen Lügen überhaupt etwas von der Liebe bleibt.
Auch Peter Wyden fragte sich in seinem Buch über Goldschlag: „Was hätte ich in Stellas Situation getan? Ist es nur ein glücklicher Zufall, dass ich nicht vor dieselbe Entscheidung gestellt worden bin?“ Takis Würgers Held ist der Wahrheit nicht viel näher gekommen. Die eigene Wahrheit über ihr Leben, die hat Stella Goldschlag mit ins Grab genommen.
Takis Würger: Stella. Roman. Hanser Verlag, München 2018. 220 Seiten, 22 €.
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