Tomás Saracenos Spinneninstallationen: Die Kunst-Spinner
Fleißige Achtbeiner haben Tomás Saraceno bei seinem Beitrag zur Ausstellung "Vanitas" im Georg-Kolbe-Museum geholfen. Zu Besuch in seinem Lichtenberger Studio.
Wie viele Mitarbeiter das Studio des Künstlers Tomás Saraceno hat, ist Anschauungssache. Etwa ein Dutzend beugt sich im ersten Stock des ehemaligen Agfa- Fabrikgebäudes in Lichtenberg über kleine Modelle oder schaut auf Computermonitore. Licht flutet durch die großen Fenster der Halle. Im Erdgeschoss – dort ist es dunkel und eng – sind noch einmal 200 bis 300 Mitarbeiter beschäftigt. Sie haben acht Beine, sind flink und fleißig. Sie heißen Cyrtophora citricola oder Nephila kenianensis. Und sie sind Spinnen.
Über Nacht bauen sie wunderschöne, komplexe Netze. Kuppelbauten, die sich Architekten in ihrer geschwungenen Kühnheit kaum zu erdenken wagen, freischwebende Statiken, die mit so wenigen Seidenfäden gesponnen wurden wie möglich. Es sind Kunstwerke der Natur. Und auch die von Saraceno. Der 1973 geborene Argentinier stellt diese Netze aus. Derzeit etwa in der Schau „Vanitas. Ewig ist eh nichts“ im Georg-Kolbe-Museum.
Herr der Spinnen
Die Mitarbeiter des Ausstellungshauses haben genaue Instruktionen bekommen, wie sie mit den temporären Gästen umzugehen haben. Denn die Spinnen bauen während der gesamten Dauer der Schau weiter. Der Kasten ist schwarz ausgekleidet, ein Lichtstrahl ist auf das Netz gerichtet, sonst könnte man die filigranen Fäden mit bloßem Auge kaum erkennen. Die Natur wird das Werk verändern. Aber nicht nur. Saraceno, der schon seit einigen Jahren fasziniert von den tierischen Baumeistern ist, dreht den Kubus von Zeit zu Zeit, so dass sich die Tiere neu orientieren müssen. Oder der Künstler nimmt die Spinne heraus und ist so Herr darüber, wann ein Werk vollendet ist. So etwa im Falle eines besonders schönen, dichten Gespinstes, das sich in einer Regalecke mitten im Lagerraum seines Atelierhauses ausgebreitet hatte. Die Spinne war ausgebüxst und Saraceno ließ sie gewähren. „Na, das ist doch wirklich extrem schön“, findet der Künstler.
Wie oft wischen wir gedankenlos Perfektion mit dem Besen weg, beseitigen Spinnweben aus Zimmerecken? Dass den filigranen Netzen normalerweise kein langes Leben beschieden ist, prädestiniert Saracenos Installationen geradezu für die Vanitas-Ausstellung, in der sie neben Arbeiten weiterer namhafter Bildhauer wie Dieter Roth, Thomas Schütte, Alicja Kwade oder Mona Hatoum zu sehen sind. Sie alle thematisieren das seit der Barockkunst präsente Motiv der Vergänglichkeit – des Memento mori: Bedenke, dass du sterblich bist. Dabei seien die Seidenfäden reißfest wie Stahl, sagt Saraceno. Er arbeitet unter anderem mit Arachnologen, Spinnenforschern, vom Forschungsinstitut Senckenberg zusammen. Mit den Wissenschaftlern hat er eine Methode entwickelt, die die Spinnennetze Schicht für Schicht scannt und in 3-D-Modelle umsetzt.
Das Netz als Sinnbild für das psychosoziale Miteinander
Denn der in Berlin lebende Künstler ist nicht nur ein neugieriger Beobachter. Er überträgt die Erkenntnisse in seine Kunst – zwischen Utopie und Bio-Engineering, zwischen emotionaler Überwältigung und wissenschaftlicher Belegbarkeit, physisch erfahrbar für den Besucher. So wie es zurzeit in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf zu erleben ist: Unter der Glaskuppel des Ständehauses hat Saraceno in 25 Metern Höhe die drei Tonnen schwere, begehbare Stahlnetz-Installation „In orbit“ montieren lassen. Wer es wagt, die schwindelerregende, schwingende Konstruktion zu begehen, hat das Gefühl, tatsächlich zu schweben. Und spürt, ähnlich wie in einem Spinnennetz, die Vibrationen der Mitmenschen. So ist für Tomás Saraceno das Netz immer auch ein Sinnbild für das psychosoziale Miteinander. In seinen Spinnenkästen lässt er Arten, die im Verbund bauen, auf Einzelgänger treffen und wartet, wie sie sich arrangieren, als sei es ein wissenschaftliches Experiment über Städtebau.
Saraceno interessieren Strukturen und Vernetzungen
Vor zwei Jahren bespielte er in einer sphärisch-futuristischen Landschaft aus 20 zum Teil zu erkletternden, durchsichtigen Ballonen, die große Halle im Hamburger Bahnhof. „Cloud Cities“ war eine verwegene Vision zukünftigen Wohnens in Wolkenstädten, in schwebenden und vernetzten Raumkapseln. Ähnliches ließ der Künstler noch einmal auf dem Dach des Metropolitan Museums of Modern Art in New York errichten.
„Ich verehre die Arbeit von Frei Otto“, sagt Saraceno. Der deutsche Architekt hatte sich in den siebziger Jahren für die Dachkonstruktion des Münchner Olympiastadions an der Oberflächenspannung von Seifenblasen orientiert. Auch Saraceno hat erst Architektur studiert, bevor er als Städelschüler nach Frankfurt am Main kam. Und so ist seine Herangehensweise interdisziplinär, eine Mischung aus Design, Naturwissenschaft und der Unerschrockenheit der freien Kunst. „Ich sehe mich als Dirigent eines Orchesters“, sagt Saraceno. Er arbeitet nicht nur mit Arachnologen, sondern auch mit Raumfahrt- Wissenschaftlern der NASA und war Artist in Residence am MIT Center for Art, Science Technology in Cambridge, Massachusetts. Bei allem internationalen Erfolg ist er ein zurückhaltender, sympathischer Künstler geblieben. Kategorisierungen liegen ihm nicht „Architektur gibt es doch eigentlich überall“, findet er, „in der Poesie genauso wie in Computersystemen.“ Ihn interessieren vor allem Strukturen und Vernetzungen.
Freiheit im Denken
Teile eines Flugkörpers hängen in Saracenos Studio, das er gerade erst neu bezogen hat. Die glitzernde Folie spiegelt das Licht, seine Mitarbeiter müssen den Kopf einziehen, weil eine Spitze des Drachens gefährlich in den Raum ragt. Nur zwei durch das Atelier tapsende Hunde kommen problemlos darunter hinweg. Es ist ein beschaulicher Ort. Hier träumt Saraceno vom Fliegen. Der Drachen ist die Vorstufe eines Solar-Ballons, der einmal die Welt umrunden soll – über alle Landes- und Kulturgrenzen hinweg. Letztlich geht es Saraceno, bei allem, was er austüftelt, um eine auf der Mikro- und Makroebene vernetzte Welt. „Ich arbeite spielerisch“, sagt er. Klagen über den Zustand der Gesellschaft gibt es bei ihm nicht, nur Freiheit im Denken. Sein Beitrag in der Vanitas-Ausstellung ist einer der optimistischsten überhaupt. Bedenke, dass alles möglich ist.
Georg-Kolbe-Museum, Sensburger Allee 25, bis 31. August, Di–So 10–18 Uhr
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