Stedelijk Museum Amsterdam: Die Kunst der Stunde
Revolution im Stedelijk Museum Amsterdam: Die von Rem Koolhaas entworfene Präsentation löst die Gattungsgrenzen auf und zeigt alle Objekte des 20. Jahrhunderts gemeinsam.
Im herkömmlichen Kunstmuseum sind die Werke nach Gattungen sortiert: In den einen Räumen hängen Gemälde an den Wänden, in anderen stehen Skulpturen auf Sockeln oder unmittelbar auf dem Boden. Andere Abteilungen oder gleich ganz spezialisierte Museen zeigen Kunsthandwerk, wieder andere Design, und auch Fotografie hat sich ihren Platz erobert – schon aus konservatorischen Gründen nahe der gleichfalls lichtempfindlichen Grafik, die darum zu einem Nischendasein für Kenner verdammt ist.
Das Stedelijk Museum in Amsterdam, zuständig für die Kunst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert – und damit zeitlich „nach“ den im nahen Rijksmuseum bewahrten Schätzen –, fühlt sich seit jeher einer Vorreiterrolle verpflichtet. Nun macht das Haus einen großen Schritt hin zur Integration der Künste, die deren tatsächlicher Zusammengehörigkeit im 20. Jahrhundert Rechnung trägt. Kurz gesagt: Gemälde, Plakate, Design- und sogar Alltagsobjekte werden Seite an Seite gezeigt. Zudem werden die stilistischen Grenzen verwischt, so etwas wie der bisherige „Kanon“ der anerkannten Kunst wird schlicht verworfen. Damit liegt das Stedelijk im Trend. Jedenfalls wird in vielen Museen damit experimentiert, die herkömmlichen Gattungsgrenzen einzureißen und Kunst im weitesten Sinne als „Artefakte“ zu zeigen.
In der Neupräsentation der Amsterdamer Sammlung gilt allein eine ungefähre chronologische Ordnung, die entlang der Raumwände als „Zeitschiene“ illustriert wird. Auf dass der Besucher nicht durch die unterschiedlichen, ja oft kontradiktorischen Werke ganz über die Zeitumstände ihrer Entstehung in Verwirrung gerät. Das gilt vor allem für den Sammlungsteil, der die Zeit von 1900 bis etwa 1960 radikal auf 1100 Quadratmetern Fläche im stützenfreien Untergeschoss des erst fünf Jahre alten Erweiterungsbaus zusammenschrumpft.
Kreuz und quer gestellte Wände sorgen für Verwirrung
Von der Krise, in die das Haus durch den plötzlichen Rücktritt seiner Direktorin Beatrix Ruf wegen eines Interessenkonflikts geraten war – Ruf betrieb eine eigene Firma für Kunstberatung – , ist zur Jahreswende nichts zu spüren: Das lange vor den jüngsten Schockwellen erarbeitete Konzept wird planmäßig umgesetzt.
Verwirrend ist, was sich innerhalb des riesigen Raumes abspielt: Da sind Stellwände kreuz und quer gestellt, mehr oder minder diagonal, aber ausdrücklich nicht in winkelhalbierender Ordnung. Sogar eine Art Haus ist entstanden, rings um das vollständige Schlafzimmerinterieur, das der niederländische Säulenheilige der Gestaltung, Gerrit Rietveld, 1926 für einen Amsterdamer Kinderarzt entworfen hat. Diesem geschlossenen Raum kann der Besucher aufs Dach steigen, um von der so gewonnenen Terrasse aus das Gewusel des Raumes zu überblicken – zumindest in dessen den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts vorbehaltenem Teil.
Verantwortlich für die Stellwände zeichnet der längst weltberühmte Rem Koolhaas. Den Architekten störten die bisherigen, meist mit hohem Aufwand errichteten Wände, die in das Untergeschoss eingezogen werden mussten, um Wechselausstellungen zu beherbergen. „Ich kenne das Museum seit langer Zeit“, betont Koolhaas im Gespräch mit dem Tagesspiegel, „und ich kenne es sehr gut. Wir wollten etwas Organisches machen, ohne all’ die Logistik, wie sie für Großprojekte erforderlich ist.“
Stahl als Hintergrund der Nicht-Kunst-Objekte
Temporäre Wände bestehen in den allermeisten Museen aus Gipskartonplatten. Koolhaas kam mit seinem Büro OMA auf die Idee, für die frei stehenden Stellwände Stahl zu verwenden. Die – selbstverständlich! – in den Niederlanden produzierten Platten sind insgesamt 180 Tonnen schwer, einzeln aber lediglich 15 Millimeter dünn. Sie stehen auf stählernen Fußplatten und stützen sich an den Ecken auf kleine Dreiecksplatten ab. Teils ist der Stahl in sandgestrahltem Grau belassen, dann stehen davor Objekte wie Skulpturen oder Keramik in eigenen Vitrinen. Teils sind sie mit 30 Millimeter dickem Holz verkleidet, weiß gestrichen wie die Wände des Raumes und wie überhaupt das Stedelijk, das als eines der Pioniermuseen der „White Box“ gelten darf. Auf diesen Wandteilen sind Gemälde und gerahmte Plakate angebracht.
„Stahl ist ein Material“, erklärt Koolhaas, „das mit der ,Außenwelt’ in Verbindung gebracht wird, und so fiel die Entscheidung, alle Nicht-Kunst-Objekte wie etwa Möbel oder Haushaltsgegenstände mit diesem Material in Verbindung zu bringen.“ Ob sich der Architekt von den frühen, legendären Präsentationen des Stedelijk hat inspirieren lassen? „Wir waren auf jeden Fall fasziniert von der Leichtigkeit früherer Installationen. Wir waren bestrebt, leichte und schlanke Elemente einzusetzen.“
Von Expressionismus zum russischen Suprematismus
Verglichen mit den Aufträgen, die das Büro OMA bearbeitet – wie etwa dem flächengrößten Gebäude der Niederlande in Rotterdam –, ist der Museumsauftrag ein kleines Projekt. Koolhaas verweist auf sein Buch „S, M, L, XL“ von 1995 und meint lakonisch: „Jede Größe hat ihr eigenes Potenzial.“
Im Amsterdamer Museum befindet sich der Besucher nirgends in einem einigermaßen geschlossenen Raumkompartiment. Immerzu öffnen sich Durchblicke auf weitere Wände, auf andere Kunst, auf andere Zeiten. Das geht bei der Chronologie vom Expressionismus zum russischen Suprematismus der Jahre ab 1915 – eine der Stärken der Sammlung – und weiter zur holländischen Avantgarde-Bewegung de Stijl und zum zeitgleichen Bauhaus wie ebenso zum Realismus der Zwischenkriegszeit noch einigermaßen gewohnt zu. Dann aber kommen schnelle Sprünge in die Nachkriegszeit, in der der Schauplatz der Avantgarde von Europa hinüber nach Amerika wandert, aber doch wieder zurückfindet mit Nouveau Réalisme und den vielfältigen, konkurrierenden und sich überlagernden Strömungen der fünfziger und sechziger Jahre.
Bruch mit alten Gewissheiten
Es war die große Zeit des Stedelijk Museum. Seine Direktoren Willem Sandberg und Edy de Wilde holten den Abstract Expressionism New Yorks erstmals nach Europa und später ebenso erstmals Pop Art und anschließend Minimal Art. Zugleich bot das Haus den vom Tafelbild fort- und zur direkten Aktion hin strebenden Gruppierungen Europas eine Anlaufstelle. Folgerichtig mischen sich in die Präsentation mehr und mehr auch Dokumente wie die Zeitschrift der „Internationale Situationniste“, denn mehr Greifbares hinterließen sie oft nicht. Schließlich sind in einer Vitrine die Kataloge legendärer Ausstellungen des Stedelijk selbst ausgebreitet: das Museum als Entstehungsort, mindestens aber Definitionsmacht von Kunst.
Alles ist Kunst: Das ist die Botschaft, die von der Neupräsentation ausgeht. Schuhmode steht neben einem Pop-Gemälde Roy Lichtensteins, das wiederum als Poster weit bekannter ist denn als singuläres Werk. Aber gilt das nicht auch für die Bilder Malewitschs, die Kaffeepötte und Mousepads zieren? Und ist nicht überhaupt der Rundgang durch ein Jahrhundert Kunst wie ein Durchlauf durch den Museumsshop? Das Stedelijk stellt Fragen. Seine Neupräsentation bricht mit der Gewissheit, die noch der frühere Museumsrundgang – ein Raum nach dem anderen, einen „Stil“ aufbauend auf dem vorigen – so selbstsicher vermittelte.
Bernhard Schulz
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