Festival im HAU: Die Kunst der Empörung
Welche Revolution sollte von Berlin ausgehen? Das HAU veranstaltet ein Festival zum 100. Geburtstag von Peter Weiss und seinem Hauptwerk "Die Ästhetik des Widerstands".
So kann Widerstand auch aussehen: Auf der Bühne türmt sich eine riesige Wand aus Benzinkanistern. Davor steht eine Performerin, die bis auf ihren Hidschab nackt und mit arabischen Worten beschriftet ist (etwa gar Koransuren?!). Langsam zieht die Frau sich eine kleine verschrumpelte Deutschlandfahne aus der Vagina, mit der sie fröhlich wedelt, bevor sie gehisst wird. Also, die Fahne. In einer anderen Szene vergeht sich ein Jesus-Darsteller an einer Leblosen, oder zum „Stille-Nacht“-Choral herzen sich nackte Paare. Na, hier ist was los!
„Unsere Gewalt und eure Gewalt“ heißt dieser Theaterabend, den sich der in Bosnien-Herzegowina geborene Regisseur Oliver Frljik ausgedacht hat. Der war bis vor Kurzem Intendant des kroatischen Nationaltheaters in Rijeka und wegen seiner dezidiert politischen Kunst vielen Anfeindungen ausgesetzt. Jetzt hat er, im Auftrag des HAU, Peter Weiss’ Monumentalschrift „Die Ästhetik des Widerstands“ gelesen, die ja ausgehend vom Nazi-Berlin des Jahres 1937 einen epischen Diskursritt durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts unternimmt und über den spanischen Bürgerkrieg ins Pariser und Stockholmer Exil gelangt. Worin sich auch die Biografie des Autors spiegelt.
Kunst als Waffe gegen Faschismus
Weil Weiss dieses Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, gibt der Suhrkamp Verlag sein Opus magnum in einer neuen Fassung letzter Hand heraus. Und das HAU in Person von Kuratorin Aenne Quinones widmet Weiss und seinem Hauptwerk ein zehntägiges Festival mit fünf Auftragsproduktionen, Lesungen, Filmen und Ausstellungen. Eingeladen wurden vor allem Künstlerinnen und Künstler von den Rändern und von außerhalb Europas, die politische Umbrüche erlebt und dadurch möglicherweise zu einem anderen Begriff von Widerstand gefunden haben. Das ergibt Sinn. Welche Revolution sollte auch von Berlin ausgehen?
Bei Weiss dreht sich alles um die Frage, wie Kunst zur wirksamen Waffe im Kampf gegen den alltäglichen Faschismus und Rassismus werden kann. Das beschäftigt auch Oliver Frljik, der wohl eine gewisse Empörung über den Umgang der Europäer mit muslimischen Flüchtlingen hegt. Deswegen hat er etwa eine Szene eingebaut, in der ein Syrer mit Schnaps und Schweinefleisch gefoltert wird. Es gibt auch eine Publikumsbeschimpfung, in deren Verlauf Frljik den Tod von vier Millionen Europäern fordern lässt – weil seit 1991 vier Millionen Araber durch unsere Bomben ermordet worden seien. Wo auch immer die Zahl herkommt, das klingt schwer nach Skandalsause – entsprechend ist der Abend bei der Premiere im Rahmen der Wiener Festwochen rezipiert worden.
Gedankenflache Schockbildanhäufung
Aber Peter Weiss spart ebenfalls nicht mit drastischen Szenen – zum Beispiel, wenn er die Folterung von Kämpfern der Gruppe „Rote Kapelle“ beschreibt. Und Frljik, Stichwort Ästhetik, reflektiert die Vergeblichkeit aller Provokation im Theater auch mit. Trotzdem bleibt sein Abend eine gedankenflache Schockbildanhäufung. Widerstand zwecklos.
Bedächtiger geht der chilenische Autor und Regisseur Guillermo Calderón zu Werke. In seinem Theater-im-Theater-Spiel „Mateluna“ ist die zentrale Figur ein Abwesender. Nämlich der ehemalige Guerillero Jorge Mateluna, der mal Mitglied der radikalen „Frente Patriótcio Manuel Rodríguez“ war und deswegen 14 Jahre hinter Gittern saß. Ihn hatte Calderón für sein Stück „Escuela – Schule“ interviewt, das von den Schulungen der Stadtguerilla im Chile der achtziger Jahre erzählte und die Motive der Kämpfer von damals für seine eigene, junge Generation von Linken erschließen sollte.
Ist jede ästhetische Frage auch politisch?
„Mateluna“ kreist nun darum, wie der Regisseur und seine Performer von der neuerlichen Verhaftung des vermeintlichen Idealisten erfahren – dieses Mal wegen schnöden Bankraubs. In einem Prozess der permanenten Selbstbeschau arbeiten sich Calderón und seine Mitstreiter an der Frage von Schuld oder Unschuld des Jorge Mateluna, vor allem aber an jener nach der Legitimation von Gewalt und der Wirkmacht von Theater ab. Was sie nach langem Vorlauf auf die Lektüre von Peter Weiss führt, dessen Textmotive inklusive Begegnung mit Bertolt Brecht dann im Stile einer marxistischen WG-Küchen-Zusammenkunft verhandelt werden. Vom Autor stammt die These, wonach alle ästhetischen Fragen politische seien. Die muss das Festival erst noch beglaubigen.
Vielleicht gelingt das ja der moldauischen Regisseurin Nicoleta Esinencu besser, die sich in „Life“ mit dem Krieg in der Ukraine und seiner medialen Vermittlung auseinandersetzt (5.–8.10.). Für die eher puritanischen Peter-Weiss-Aficionados gibt es außerdem eine Lesung der „Ästhetik des Widerstands“ in 17 Folgen, an der Schauspielerinnen und Schauspieler wie Sandra Hüller, Nina Kronjäger, Mira Partecke, Robert Stadlober oder Fabian Hinrichs beteiligt sind. Vielleicht das Beste: einfach Weiss hören.
Festival „Ästhetik des Widerstands – Peter Weiss 100“: bis Sa, 8.10. im HAU 1,2,3
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