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Klang und Körper. In der Choreografie von Sasha Waltz agieren Tänzer gemeinsam mit den Musikern.
© dpa

Eröffnung des Kunstfest Weimar: In der Unruhe liegt die Kraft

Gewalt, Ästhetik, Liebestod: Das Kunstfest Weimar eröffnet mit der Choreografin Sasha Waltz und der Jungen Deutschen Philharmonie – und muss um seine Zukunft kämpfen.

Das Ende vom Anfang markieren ganz einfach nur Schuhe. Da stehen erst 500 Festspielgäste ein paar Dutzend jungen Menschen in Jeans oder dünnen Sommerkleidern gegenüber. Die Jungen, das weiß oder ahnt man, sind Künstler, die einem noch irgendwie später begegnen werden. Doch jetzt stehen sie einfach da. Starr und still. Manche Zuschauer werden schon ungeduldig, halten das für eine der modischen milden Provokationen des scheinbaren Nichtanfangenwollens, das in Theatern zu sich steigerndem Husten, Räuspern, Rumrutschen oder verlegenem Lachen führt.

Hier im Freien, an einem späten Sommerabend vor der Glasfront der unweit des Nationaltheaters Weimar und der geisteshistorischen Altstadt gelegenen hochmodernen Weimarhalle, ist das plötzlich anders. Die jungen Frauen und Männer beginnen langsam nacheinander ihre Schuhe auszuziehen, lassen sie paarweise auf dem steinernen Vorplatz stehen und gehen je einzeln und barfuß durch die Menge der Besucher hinein in die Halle. Als der letzte dort verschwunden ist, folgen die Zuschauer, viele blicken dabei noch zurück auf all die hinterlassenen Flip-Flops, Turnschuhe, Pumps, Sandalen, die nun einer so beiläufigen wie mehrdeutigen Installation gleichen.

Es sind symbolische Fußabdrücke oder letzte, namenlose Habseligkeiten – wie von Gestrandeten, von Geflüchteten? Von Gestorbenen? Man kann ohne falsches Pathos sogar an die Lager denken, Buchenwald liegt ja nur einige Kilometer Luftlinie im Rücken.

Zum Überleben gehört ein Lächeln

Drinnen spielen dann zur Eröffnung des Kunstfests Weimar 2016 die neunzig Musiker der Jungen Deutschen Philharmonie und die Soloviolinistin Carolin Widman: alle barfuß, in ihren Alltagskleidern. Barfuß auch die vier Tänzer und zwei Tänzerinnen von Sasha Waltz & Guests, allein der Dirigent Sylvain Cambreling trägt Schuhe. Und was sie zusammen vollführen, mit Wagners Vorspiel zu „Tristan und Isolde“ und der neuen Version der choreografischen Sinfonie „Still“ der in Berlin lebenden britischen Komponistin Rebecca Saunders, gerät zum Triumph. Ist kaum je gesehenes Musiktheater, weil die furiosen jungen Philharmoniker und der Dirigent, ein Weltstar, körperlich über ihre Instrumente und den Taktstock hinaus mitagieren, die Tänzer wiederum selbst innerhalb des Orchesters auftreten, ihrerseits zu stumm bewegten, expressiven Klang-Körpern werden.

Auch die Schar syrischer und anderer arabischer, afrikanischer Migranten, die im Rahmen des Kunstfests beim Programm „Spotting Culture“ partizipieren, wirkt in der Pause sichtlich ergriffen, so etwas haben sie noch niemals sehen, hören, ahnen können. Schon als sie über einen kleinen roten Teppich wie Ehrengäste in die Halle eingelaufen waren, die jungen Frauen teilweise in farbenkräftigen Tüchern, gab es Beifall, und das wirkte – anders als etwa beim Berliner Theatertreffen – überhaupt nicht als kulturbeflissene Instrumentalisierung von Flüchtlingsschicksalen. Sondern spielerisch. Genau ein Jahr nach Angela Merkels Öffnungspolitik („Wir schaffen das“) wie beiläufig heiter, fast selbstironisch. Zum Überleben gehört auch das Lächeln.

Zukunft des Festivals ist in Gefahr

So stark wie an diesem vergangenen Wochenende hat lange kein Kulturfestival mehr in Deutschland eröffnet. Und das in akuter Gefährdungslage. Die Zukunft des Kunstfests Weimar ist über das Jahr 2018 hinaus nicht gesichert, seit die Stadt ihren Anteil an den Kosten der gemeinsam mit dem Land Thüringen und der Bundeskulturstiftung getragenen Festspiele unlängst infrage gestellt hat. Es geht um 250 000 Euro des 1,3 Millionen-Budgets, mit dem man finanziell, verglichen mit Salzburg, Bayreuth, Edinburgh oder Avignon, finanziell ohnehin nur in der Regionalliga spielt. Aber es geht eben um Weimar, diesen Herz- und Kopfort deutschen Geistes und einst auch mörderischen Ungeists.

Also hat die Meldung zur noch immer ungeklärten Lage des international angesehenen, Musik, Theater, Tanz, Literatur und Bildende Künste präsentierenden Festivals Empörung ausgelöst. Klaus-Dieter Lehmann, der Präsident des mit Weimar schon durch den Namenspatron weltweit verbundenen Goethe-Instituts, droht das Engagement für die Stadt grundlegend zu überdenken, und die Stiftung Weimarer Klassik, neben der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin Deutschlands bedeutendste kulturelle Dachinstitution, ist besorgt bis entsetzt.

In der Situation passt jener emphatische Auftakt mit den jungen Philharmonikern, mit der Compagnie von Sasha Waltz und der Gesamt-Komposition von Rebecca Saunders: betitelt „Un / Ruhe". Wagners schwermütige Liebestod-Elegie des „Tristan“-Vorspiels gleitet dabei verblüffend direkt, nach dem kurzen Schock einer jäh trillierenden Violine, über in Saunders’ „Still“. Der Titel wirkt doppelsinnig, die Partitur hat Rebecca Saunders vor fünf Jahren entwickelt, angeregt durch Samuel Becketts letzten, kurzen Prosatext „Stirrings still“ („Immer noch nicht mehr“), und Sylvain Cambreling hatte schon 2011 die Uraufführung mit dem BBC Symphony Orchestra dirigiert.

Endsehnsuchtsmelodie, die explodiert

Jetzt, in Verbindung mit den Tänzern, mit Wagners Vorspiel und noch Alban Bergs „Lulu“-Suite als eine Art Zugabe nach der Pause, strahlt das Werk indes wie neu. Nach Voraufführungen in Darmstadt und im Berliner Radialsystem (siehe Tagesspiegel vom 18. August) hat Jochen Sandig, Sasha Waltz’ Partner, in seiner klugen szenischen Einrichtung mit dafür gesorgt, dass Weimar ein wahres Gesamtkunstwerk erlebte.

Saunders’ Symphonie nimmt Becketts stilles Träumen aus der irdischen Zelle hinaus ins Weltalldunkel auf und lässt die Endsehnsuchtsmelodie mit Geigen, Hörnern und magischen Percussions erst pulsieren, dann geradezu explodieren – und der Tanz endet in der Andeutung eines Kusses, im Halbdunkel: von Wagners Liebestod zum erotischen Überlebenszeichen, das Alban Bergs „Lulu“-Suite, schwächer als seine dramatische „Lulu“- Oper, trotz Mord und Liebeswahnsinn, nicht mehr bricht.

Vor einem letzten Knall gibt es einen sonderbaren Kuss auch zum Finale von Oliver Frljic’ Performance „Unsere Gewalt und eure Gewalt“ im ehemaligen Weimarer E-Werk. Der 40-jährige, in Bosnien geborene Direktor des Kroatischen Nationaltheaters Rijeka hat sie zusammen mit Schauspielern auch aus Slowenien als gleichsam exjugoslawische Europroduktion erarbeitet.

Das deutsche Fähnchen aus der Vagina gezupft

Inspiriert wurde das angeblich durch Motive aus Peter Weiss’ monumentalem Essay-Roman „Die Ästhetik des Widerstands“. Anlässlich von Weiss’ 100. Geburtstag widmet das Kunstfest Weimar acht seiner über hundert Veranstaltungen dem Gedenken an diesen großen, heute nur noch viel zu wenig präsenten Schriftsteller, mit Lesungen unter anderem mit dem Schauspieler Thomas Thieme.

Das wirkt aufmerksam. Aber der Kontext und Konnex mit „Unsere Gewalt und eure Gewalt“ ist nur der, dass eben alles irgendwie mit allem zusammenhängt. Bei dem erwähnten Kuss hatte gerade ein mit schwarzrotgoldenem Lendentuch geschürzter Christusdarsteller eine iranische Muslima vom Hidjab zwangsbefreit und geschändet, davor hatte die gleiche Darstellerin nackt schon das deutsche Fähnchen aus ihrer Vagina gezupft, dazu Nebelschwaden, andere Nackte mit arabischen Schriftzeichen auf der Haut und „Stille Nacht, heilige Nacht“ vom Band.

Auch hatte es angedeutete IS-Köpfungen mit dem Schlachtmesser gegeben, und umgekehrt war ein muslimischer Flüchtling von einer EU-Einwanderungsbehörde mit einer Flasche Schnaps und einem Schweinskopf integrationshalber traktiert, ja: gefoltert worden. Alle haben Schuld, selbst die Opfer des Terrors, auch die Theatermacher und die Theaterzuschauer, aber am meisten das Gespenst des westlichen Kapitalismus (der chinesische, russische, selbst der arabische existiert hier nicht).

Keine Anpassung, sondern Aufregung.

Das wirkt krud, krass, oft auch kitschig. Oder unherzlich naiv. Im September kommt das auch ins Berliner HAU, Zürich hat die Tourneeproduktion wieder ausgeladen. Aber dass Weimars streitbarer Kunstfestintendant Christian Holtzhauer trotz eigener Vorbehalte standhaft geblieben ist, imponiert schon wieder. Holtzhauer möchte in unruhigen Zeiten „keine Anpassung, sondern Anregung, Aufregung“. Eben „Un/ Ruhe“.

Er sagt im Gespräch, „Kunst kann die Welt nicht retten, nicht mal bessern“, doch ohne Kunst und Kunstfeste wäre sie allemal weniger gut. Und Weimar, das 2019 das Jahrhundertjubiläum der ersten deutschen, im Nationaltheater Weimar konstituierten Demokratie begeht, wird sich ein Ende seines Festivals gewiss nicht leisten können.

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