Rede von Chris Dercon: Die Kunst als Eindringling
Volksbühnen-Intendant Chris Dercon hält eine Rede beim Ökumenischen Aschermittwoch der Künstler in der Berliner Gemäldegalerie.
Valentinstag oder Aschermittwoch?, fragt Chris Dercon, das Aschekreuz auf der Stirn, rhetorisch in die Runde. „Ich weiß nicht, was schwieriger ist“, kokettiert der Intendant der Berliner Volksbühne zum Auftakt seiner Rede beim Ökumenischen Aschermittwoch der Künstler in der Berliner Gemäldegalerie. Auch wenn die „roten Rosen, roten Herzen“ und, schlimmstenfalls, die „rot verbrannte Solariumshaut“, die er mit dem Tag der Liebe assoziiere, ziemlich weit von der aschermittwöchlichen „Umkehrung“ entfernt liegen: Immerhin hätten die in diesem Jahr zusammenfallenden Feiertage eine Gemeinsamkeit. „Es geht um Zukunft.“
So darf man auch der Berliner St.-Matthäus-Kirche ein sicheres Händchen attestieren, die zu dieser Doppelveranstaltung – erst Gottesdienst mit Austeilung des Aschekreuzes in der Kirche, anschließend besagte Künstlerrede in der benachbarten Gemäldegalerie – eingeladen hatte. Über die Zukunft nicht nur, aber auch des Theaters und insbesondere der Volksbühne würde man ja nicht ungern was erfahren. Zumal von deren aschebekreuztem Intendanten. Und auf einer Startrampe, die Weihbischof Matthias Heinrich mit seiner passionszeitlichen Besinnungs-, Umkehr- und Perspektivwechsel-Predigt perfekter nicht hätte errichten können.
Denn was die roten Rosen, Liebesherzen und die vor potenzieller theatraler Innovationsfreude gerötete Publikumshaut betrifft, sieht es ja bekanntlich mehr als mau aus am Rosa-Luxemburg-Platz, seit Dercon die Volksbühne übernommen hat. Und wenn sich bis zum Sommer nichts Entscheidendes tut im lückenreichen Spielplan aus vielfach bereits anderswo gelaufenen Inszenierungen und halbherzig aufgewärmten Weiterentwicklungen, wird das wohl auch nix mehr mit der großen Liebe und der rosigen Zukunft.
Rasantes Zitate-Hopping
Also: Umkehr? Umdenken? Perspektivwechsel? Er wolle über Heimat sprechen, erklärt Dercon, diesen gerade wieder so viel und kontrovers diskutierten Begriff. Und zitiert einen Vorwurf, der ihn jüngst per Brief in seinem Intendanzbüro erreicht habe: „Ihr Programm ist der Ausdruck des Verlusts meiner politischen Heimat.“ (Vereinzelter halblauter Bestätigungsapplaus, der jedoch schnell wieder verebbt.)
Das war’s dann aber auch schon mit der Volksbühne. In puncto Konkretion liefert Dercon in seiner Aschermittwochsrede wirklich astreine Fastenkost. Über rasantes Zitaten-Hopping von Goethe über Jean-Luc Nancy, Michel Foucault, Einar Schleef und Giorgio Agamben bis hin zu Christoph Schlingensief oder François Jullien, der in seinem jüngsten Buch zeigt, dass der Glaube an „kulturelle Identität“ eine Illusion und das Wesen der Kultur gerade die Veränderung sei, kommt Dercon zu seiner Kernaussage: „Gute Kunst ist wie ein Eindringling, der aufgenommen wird. Und mich interessieren besonders die Eindringlinge, die ich noch nicht kenne und an die ich mich gewöhnen muss.“
Kann man glatt unterschreiben. Würde man allerdings auch gern sehen. Andernfalls bewahrheitet sich die Asche-Formel schneller, als uns allen lieb sein kann: Bedenke, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst.
Christine Wahl