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"Das Gesetz ist furchtbar": Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles am Bertolt-Brecht-Platz .
© Doris Spiekermann-Klaas

Bühnen im Lockdown: „Die Kulturpolitik wird offenbar nicht mehr gehört“

Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles, nennt das „Notbremse“-Gesetz einen Jammer für die Kultur und wirbt nochmals für umsichtige Öffnungsstrategien.

Oliver Reese, Jahrgang 1964, ist seit der Spielzeit 2017/18 Intendant des Berliner Ensembles, sein Vertrag wurde inzwischen bis 2027 verlängert. Er legt im BE ein besonderes Augenmerk auf zeitgenössische Stücke. Zuvor leitete er acht Jahre lang das Schauspiel Frankfurt.

Herr Reese, das neue Infektionsschutzgesetz erlaubt bei einem Inzidenzwert über 100 keinerlei Öffnungsperspektiven für die Kultur. Wie geht es Ihnen damit?

Das Gesetz ist furchtbar für die Kultur. Die Kulturpolitik wird bei solchen Gesetzgebungsverfahren offenbar nicht mehr gehört, sie hat keinerlei Einfluss. Kultursenator Lederer hatte uns Intendant:innen zuletzt noch aufgefordert, an jeden Abgeordneten zu appellieren, den wir persönlich kennen, um ihm die Konsequenzen zu schildern. Ich habe das getan, es war vergeblich.

Der Deutsche Kulturrat machte sich dafür stark, dass wenigstens Freiluftveranstaltungen und Modellprojekte zulässig sein sollten.

Das war unsere letzte Hoffnung… Die Forderung wurde auch vom Deutschen Bühnenverein unterstützt, ebenfalls vergeblich. Es ist fatal. Auch wenn es jetzt zu Klagen beim Bundesverfassungsgericht kommt, der juristische Weg dauert und die Kultur hat keine Zeit mehr.

Auch das Berliner Ensemble plant seit Monaten Open-Air-Aufführungen, wobei wir uns nichts vormachen sollten. Es ist eine schöne und wichtige Geste, Open-Air könnte ein lustvolles Zeichen setzen , aber es ist nur ein kleiner Ersatz. Vor dem Deutschen Theater könnten 140 Besucher:innen Platz finden, im Innenhof des BE eher 120. Das ist nicht vergleichbar mit einem Spielbetrieb im Großen Haus, das selbst mit Abstandsregeln noch 350 Personen fassen würde.

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Sogar das "Pilotprojekt Testing", bei dem das BE im März den Anfang machte, wurde von Klaus Lederer ausgebremst – was er inzwischen kritisch sieht.

Es zu Ostern zu stoppen, fand ich tatsächlich voreilig, den vorläufigen Abbruch habe ich sehr bedauert. Wir haben mit doppeltem Netz und dreifachem Boden gearbeitet. Alle Leute vor und hinter der Bühne wurden getestet sowie auch alle Leute im Saal, die zudem FFP2-Masken trugen und im Schachbrett mit Abstand saßen!

Die Menschen werden so immer mehr zu privaten Treffen in den eigenen Innenräumen gedrängt, unkontrolliert und oft ohne Tests, was sicher zu mehr Infektionsgeschehen führt. Der Modellversuch zeigte Öffnungsmöglichkeiten auf, die jetzt wieder auf den St. Nimmerleins-Tag verschoben sind. Es ist ein Jammer. Der politische Druck ist offenbar so groß, dass die Kultur komplett unter den Tisch fällt. Ich verstehe das nicht, da wird ein reines Sicherheitsdenken propagiert, das den Gegenwert von Begegnungen unter klugen Auflagen negiert.

Experten zufolge stecken Besucher:innen selbst dann in einem Theater- oder Konzertsaal niemanden an, wenn sie sich vorher im Bus oder in der U-Bahn infiziert haben. Bis sie selber infektiös sind, dauert es mindestens einen Tag.

Unabhängig von der Frage der Wege: Durch die vorgeschriebenen Schnelltests könnten zusätzlich Infizierte ausgemacht werden, das ist doch ein Kollateralgewinn! So viele Betriebe testen nicht angemessen, bei unserem Modellprojekt war es Pflicht. Wir bieten ohnehin allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zwei Mal die Woche einen kostenlosen Test an, bei Proben wird drei Mal wöchentlich getestet. So ist es in vielen Häusern, bereits seit November testen wir regelmäßig. Theater könnten Vorbildcharakter für andere gesellschaftliche Bereiche haben.

Das Bild des Zuschauersaals im Berliner Ensembles nach dem Ausbau von Stühlen hatte im Mai letzten Jahres Furore gemacht.
Das Bild des Zuschauersaals im Berliner Ensembles nach dem Ausbau von Stühlen hatte im Mai letzten Jahres Furore gemacht.
© Britta Pedersen/dpa

Wie halten Sie und das Ensemble sich bei Laune, mit Durchhaltereden?

Ja, aber es sind keine Monologe. Wir veranstalten in regelmäßigen Abständen digitale Ensembleversammlungen und wollen uns im Mai und Juni regelkonform auch im Freien treffen, um den Ensemblegeist am Leben zu halten. Alles verschieben, alles absagen, beides macht keinen Sinn. Also proben wir, bringen Projekte zu einem vorläufigen Ende, pausieren dann wieder und versuchen insgesamt, der Situation angemessene, aber dennoch vitale Formen der Kunstproduktion zu finden.

Ein deutliches Sinken der Inzidenzwerte ist nicht absehbar, ist die Saison gelaufen?
Ich will nicht schwarzmalen, aber das ist angesichts der neuen Gesetzeslage wohl zu befürchten. Und es bedeutet: kein normaler Spielbetrieb seit März 2020; die jetzige Saison hätte dann nur aus den Monaten September und Oktober bestanden, in denen wir erst vor einem drittel-, dann vor einem halbvollen Saal spielen konnten. Die gesamte Belegschaft des Berliner Ensembles hätte dann über ein Jahr lang für nur wenige tausend Menschen Theater gemacht – und die vielen zehntausende von digitalen Besuche sind da doch nur ein kleiner Trost. Das ist schon verdammt bitter.

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