Erinnerungskultur in Berlin: Die koloniale Vergangenheit sichtbar machen
Berlin postkolonial: Performances, Rundgänge und Straßenumbenennungen bringen an diesem Sonntag im öffentlichen Raum versteckte Geschichte ans Licht.
Otto von Bismarcks Kopf, wenn auch aus Lehm, rollt über den Boden. Er wird getreten, sein Gesicht mit Dreck beschmutzt. Von oben auf ihn herab guckt sein gigantisches Spiegelbild, samt massigem Körper, eine Riesenskulptur. „Ich habe Afrika aufgeteilt und erobert“, verkündet eine große Sprechblase, die an einem Stecken befestigt ist. Mit dieser Performance rund um das 1901 eingeweihte Bismarck-Nationaldenkmal sorgte der portugiesische Künstler Márcio Carvalho kürzlich im Tiergarten für Verwunderung. Am Sonntag, 17. Juni, schreitet er an selber Stelle, unweit vom Großen Stern, erneut zur Tat.
Damit mischt er sich ein in den Streit um die europäische Kolonialvergangenheit und postkoloniale Erinnerungskultur. Während Kunsthistoriker, Wissenschaftler und Politiker diese brisanten Themen in Museen und Universitäten diskutieren, verhandeln Künstler wie Carvalho sie längst an einem anderen Ort: im öffentlichen Raum. Die Debatte um koloniale Raubkunst, Provenienzforschung und postkoloniale Ausstellungskonzepte wird derzeit nicht nur in Deutschland heftig geführt.
Durch die Ankündigung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Kunst der Kolonialzeit umfangreich restituieren zu wollen, und die Entsendung einer entsprechenden Kommission, zu der auch die Berliner Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy gehört, hat sie auf europäischer Ebene insgesamt eine neue Dringlichkeit gewonnen. In Berlin steht das Thema aufgrund des näherrückenden Eröffnungstermins vom Humboldt-Forum im Fokus, in dem die Ethnologischen Sammlungen zu sehen sein werden. Aktuell zeigt die Berlin-Biennale, wie ein kreativer Umgang mit Kolonialgeschichte aussehen kann.
„Gegen-Monumentalisierung“ mit lebendigen Körpern
Im öffentlichen Raum prägen Erinnerungsorte wie Denkmäler, Statuen und Straßennamen die Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft, ja einer ganzen Nation. Sie geben der Gegenwart einen Rahmen. Doch Geschichte ist, was weitergegeben wird. Aber woran wird erinnert? Und woran nicht? Was bedeutet es im Jahr 2018, wenn die mächtigen Männer von gestern und vorgestern in Übergröße das Stadtbild prägen?
Auf diese Fragen macht der in Berlin lebende Carvalho mit seinem Kunstprojekt aufmerksam. „Demythologize that history and put it to rest“, so der Titel, bringt Künstler aus Angola, Kamerun, Gabun, Irak, Mosambik und Portugal zusammen, um öffentliche Geschichtsbilder in Berlin und Lissabon zu hinterfragen – mit dem Mittel der Performance. „Portugal und Deutschland haben eine gemeinsame Geschichte, auch wenn diese kaum bekannt ist: Portugal war der Ideengeber für die Kongokonferenz, zu der Bismarck die europäischen Mächte nach Berlin einlud“, erklärt Carvalho. Ende 1884 und Anfang 1885 wurde bei dieser Konferenz unter Federführung Bismarcks der afrikanische Kontinent unter den Europäern neu aufgeteilt.
Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Teil der Geschichte ließe das Berliner Bismarck-Denkmal kaum zu, meint Carvalho. Deswegen möchte er es „mit lebendigen Körpern erobern und eine Gegen-Monumentalisierung schaffen“. 134 Jahre nach der Kongokonferenz verfolgen im Tiergarten etwa 50 Interessierte, wie der irakische Künstler Wathiq al Ameri Bismarck-Köpfe aus Lehm formt, während Carvalho und der ebenfalls aus dem Irak stammende Künstler Ali al Fatlawi mit einem Tropenhut bekleidet auf das Denkmal klettern. Am Hut hängen feuerrote Chilischoten, die Importgüter aus den damaligen Kolonien symbolisieren. Mit jeder Kopfbewegung lösen sie ein raschelndes Geräusch aus. Die Performances irritieren. Nach seinem Auftritt erzählt Carvalho, wie ein Passant ihm sagte, Kolonialismus sei doch vor allem eine französische und britische Angelegenheit gewesen. Dass das heutige Namibia 1884 bis 1915 unter deutscher Herrschaft stand, wusste der junge Mann nicht.
Kunst kann im öffentlichen Raum stören
Der Tropenhut taucht einen Monat später in Lissabon an der Statue Karls I. wieder auf, des vorletzten Königs Portugals. Carvalho zaubert ihn aus einem mit Wasser gefüllten Kochtopf. Eine empörte Anwohnerin ruft die Polizei: Jemand habe dem König einen Hut auf den Kopf gesetzt und ihn damit beleidigt. In Portugal, das sich immer noch gerne als große Seefahrernation versteht, ist die Kolonialgeschichte ein besonders wunder Punkt. Nach einem blutigen 13-jährigen Dreifrontenkrieg wurden die portugiesischen Kolonien Mozambique, Guinea-Bissau und Angola erst 1974 unabhängig.
Was kann Kunst in Hinblick auf diese Geschichte leisten, was die Wissenschaft nicht kann? Die Anthropologin Elsa Peralta, Expertin für koloniale Erinnerungskultur in Portugal, meint zu diesem Problem: „Kunst besitzt eine Zwanglosigkeit, die der akademische Diskurs nicht hat. Kunst kann im öffentlichen Raum stören.“ In Lissabon befindet sich die Debatte um die Kolonialgeschichte erst am Anfang. In Berlin dagegen gibt es zahlreiche Initiativen, die sich seit Jahren damit auseinandersetzen.
Studierende der Alice-Salomon-Hochschule entwickelten eine Audioguide-Tour, die unter dem Titel „Unfreie Arbeit und Rassismus“ zu neun Schauplätzen des kolonialen und nationalsozialistischen Deutschlands führen. Ein ähnliches Projekt brachten Studierende des Masterstudiengangs „Historische Urbanistik“ der TU Berlin auf den Weg, die in einem Projektseminar das postkoloniale Berlin kartografierten: Auf der Karte informieren sie mit kurzen Texten über die koloniale Vergangenheit von 57 Orten in der Hauptstadt.
Vorherrschende Geschichtsbilder infrage stellen
Auch der Verein „Berlin Postkolonial“ und die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland ISD Bund e. V. setzen sich in Berlin seit geraumer Zeit für einen Perspektivwechsel ein. Als Mitglieder des Bündnisses „Decolonize Berlin“ haben sie im April einen vorläufigen Erfolg in der seit Jahren andauernden Auseinandersetzung um die Straßenumbenennungen im Afrikanischen Viertel im Wedding errungen: In Zukunft sollen dort afrikanische Widerstandskämpfer statt die Begründer des deutschen Kolonialismus geehrt werden. Die Aktivisten wollen nach eigenen Angaben nicht Geschichte auslöschen: Vielmehr sollen Informationstafeln über den historischen Hintergrund der Straßennamen aufklären. Bereits seit 2011 informiert an der Müllerstraße/Ecke Otawistraße eine Tafel über die Geschichte des Afrikanischen Viertels. Unumstritten ist das Vorhaben der Straßenumbenennungen allerdings nicht. In Mitte setzen sich Aktivisten gegen heftige Widerstände für eine Umbenennung der Mohrenstraße ein.
Gemeinsam haben alle diese Projekte, dass sie vorherrschende Geschichtsbilder infrage stellen. Genau dies möchte auch Carvalho mit seinen Performances in Lissabon und Berlin ereichen. „Wir wollen keine vorgefertigten Interpretationen präsentieren“, sagt er. „Wir wollen Fragen aufwerfen.“ Für die Zukunft wünscht sich der Künstler vor allem eins: keine erstarrten Formen von Erinnerung, sondern einen anhaltenden Dialog.
Die nächste Performance von „Demythologize that history and put it to rest“ findet am Sonntag, 17.6., um 17 Uhr am Bismarck-Denkmal im Tiergarten nahe dem Großen Stern statt, diesmal mit der Künstlerin Nathalie Bikoro. Alle weiteren Termine: https://www.goethe.de/de/uun/auf/mus/ikf/dem.html
Den Audioguide zu „Unfreier Arbeit und Rassismus“ kann man sich hier kostenlos runterladen: http://www.verwobenegeschichten.de/touren/audioguide-unfreie-arbeit-und-rassismus/.
Die Karte zum postkolonialen Berlin findet sich unter: http://www.arcgis.com/apps/MapSeries/index.html?appid=9fb2779479e44fe3918089636970029d
Anna Thewalt
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