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Vom Leben geschlagen: Milan Peschel als Schuster Wilhelm Voigt.
© Arno Declair

Deutsches Theater: "Der Hauptmann von Köpenick": Die kleinen Leute von heute

Milan Peschel brilliert als „Hauptmann von Köpenick“ am Deutschen Theater – und lässt die Volksbühne wiederaufleben.

Klein und schmal, dabei aber alles andere als unpfiffig, schlendert Schuster Wilhelm Voigt über die leere Bühne des Deutschen Theaters. Frisch aus Plötzensee entlassen, wo er wegen Urkundenfälschung einsaß, ist er brav auf Jobsuche. Und wird bekanntlich mit Grandezza an den Behörden scheitern. Vorher macht es dem Resozialisierungsfall allerdings die Stadt ein bisschen schwer. Nicht nur ihm ist ja Berlin etwas fremd geworden in den letzten Jahren. Erst auf langes Klopfen öffnet sich sesamartig eine Riesenschiebetür und gibt den Blick frei auf eine Hochhausprojektion: stilgerecht abgerockter DDR-Plattenbau. Spürbare Erleichterung beim Schuster. Und weil der vom ehemaligen Castorf-Volksbühnenstar Milan Peschel in Bestform gespielt wird, ist das wirklich ein ziemlich großer Auftakt-Moment.

Später wird es auf Stéphane Laimés Bühne nur so wimmeln vor hoch aufragenden Kulissen mit Projektionen archetypischer Berliner (Architektur-)Geschichte: Voigt und Co. bewegen sich zwischen städtebaulichem Restvorkriegsflair und den Hochhäusern vom Potsdamer Platz durch Carl Zuckmayers Theaterhit „Der Hauptmann von Köpenick“, der ja vor 86 Jahren just hier, am Deutschen Theater, uraufgeführt und immer wieder von denkbar unterschiedlichen (Berliner) Bühnenikonen gespielt wurde.

Brückenschlag zwischen gestern und heute

Im aktuellen Inszenierungsfall versuchen Regisseur Jan Bosse und Dramaturg David Heiligers, die unter Mitarbeit von Armin Petras eine eigene Textfassung kreiert haben, tatsächlich eine Art programmatischen Brückenschlag zwischen dem Zuckmayer’schen und dem heutigen Berlin. Und zwar dankenswerterweise ohne das Stück einfach platterdings in die Gegenwart zu verpflanzen. Ähnlich wie bei den projizierten Stadtkulissen geht es eher um verschiedene Zeitschichten und ihre strukturellen Verbindungslinien. Was theoretisch ein reizvoller Ansatz ist, praktisch allerdings nur in Teilen funktioniert. Denn das skurril-existenzielle Dilemma, in dem der vorbestrafte Schuster steckt – er bekommt keine Arbeit ohne Pass und Aufenthaltsgenehmigung, muss aber andererseits dafür erst einen Job nachweisen –, wird mit prekären Berliner Zeitgeist-Phänomenen enggeführt. Und das tut, weil es stellenweise allzu hölzern und aufgepropft wirkt, dem Abend leider nicht in jedem Fall gut.

So verheddert sich Steffi Kühnert – ansonsten wie Peschel eine uneingeschränkte Bühnenfreude – einmal ausgerechnet als Gefängnisdirektor in einer biografischen Schleife. Von allzu schwelgenden Erinnerungen über die leider verflossenen Bochumer Schauspiel-Glanzzeiten unter Leander Haußmann, die hier sozusagen als konkreter Gegenstand ebenso wie als Metapher für einen diagnostizierten gegenwärtigen Branchen-Mängelzustand stehen, kommt sie bis zu persönlichen Gentrifizierungstragödien im Prenzlauer Berg. Aber dass solche Momente nicht zu den besten dieses pausenlosen 140-Minüters gehören: geschenkt.

Denn was man an diesem DT-Abend zweifelsohne zu sehen bekommt, ist ein Schauspielensemble in Höchstform. Katrin Wichmann etwa erzählt als Wilhelm Voigts Kleinbürger-Schwester Marie Hoprecht en passant und gleichsam mit lässigst-minimalen Strichen eine abgrundtiefe Ehetragikomödie, wenn sie aus dem vollmundigen Schwärmen über ihren Gatten – halb Angeberei vor dem Bruder, halb existenzielle Selbsterbauungsnotwendigkeit – plötzlich in feinstens ziselierten Übersprungsaussetzern explodiert. Und Felix Goeser, wechselweise als Maries rechtschaffener Cordhosen-Gatte oder als Bürgermeister von Köpenick in einem wirklich überwältigende Wülste aufwerfenden Fatsuit, steht ihr in nichts nach.

Gefühlt die halbe Prä-Dercon-Volksbühnenmannschaft sitzt im Publikum

Getragen wird der Abend aber natürlich von Milan Peschel, der den „Hauptmann“ in Richtung Fallada’scher „Kleiner Mann“ rückt: ein Prekärer und vom Leben Geschlagener, der mit seinem Urberliner (Spiel-)Witz jede Rührseligkeit genauso zielsicher auskontert wie anfallartige Existenzverzweiflungsschübe. Dass Peschel dabei quasi aus jeder Geste und Pore eine einzige Castorf-Volksbühnen-Reminiszenz verströmt, war zu erwarten. Dass es bei Weitem nicht die einzige bleibt an diesem DT-Abend, ist schon überraschender. Zwischendurch beschleicht einen tatsächlich das Gefühl, das Khuon-Haus sei willens, den Rosa-Luxemburg-Platz an der Schumannstraße wiederauferstehen zu lassen. (Was natürlich, auch dies zeigt der Abend, unmöglich ist.)

Jan Speckenbachs Live-Kamera, die mal mehr, mal weniger hinter den Stadtkulissen versteckte Schauspielergesichter immer wieder groß auf die Bühne projiziert, bedient sich jedenfalls deutlich bei der Castorf-Ästhetik. Dazu sitzt auch gefühlt die halbe Prä-Dercon-Volksbühnenmannschaft im Publikum. Peschel selbst wiederum trägt die große Ära dabei nicht nur ideell aufs Erfreulichste mit sich herum, sondern sogar ganz buchstäblich. Und zwar in Gestalt eines Stoffbeutels mit dem berühmten, noch von Bert Neumann entworfenen und vor allem in der letzten Castorf-Spielzeit hoch frequentierten „Krise“-Logo der Volksbühne.

Am Ende, wenn Schuster Voigt sich mit einer Second-Hand-Uniform, die bei Kostümbildnerin Kathrin Plath so schön seriositätsfrei glitzert wie ein extrahalbseidenes Faschingskostüm, Befehlsgewalt übers Köpenicker Rathaus verschafft und bei dieser Gelegenheit des Inhalts der Stadtkasse bemächtigt, werden Scheine und Münzen – schönes Bild – geradewegs in jenen „Krise“-Beutel gestopft. Schon da kann man eigentlich ahnen, dass es für diesen „Hauptmann“, anders als bei Zuckmayer, keine Erlösung im finalen Gelächter geben wird. Bei Jan Bosse fährt am Schluss der Eiserne herunter, und Peschels Berliner Schuster steht davor und schaut ins Parkett – ratlos und ausgeschlossen wie eh und je.

wieder am 26. und 31. 12. (jeweils ausverkauft) sowie am 6., 13. und 25. 1.

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