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Sinnvolles Ritual? Israelische Schülerinnen, eingehüllt in die Nationalflagge ihres Landes 2018 in Auschwitz.
© imago/Eastnews

"Monster" von Yishai Sarid: Die Illusion Mensch

Erinnerungskultur gebiert Ungeheuer: Yishai Sarids Roman „Monster“ über einen israelischen Holocaust-Forscher, der durch einstige Vernichtungslager führt.

Als der Held und Erzähler von Yishai Sarids Roman „Monster“ (Kein & Aber, Zürich 2019. 176 S., 21 €.) das erste Mal von seinem Vorgesetzten dabei beobachtet wird, wie er eine Gruppe durch die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem führt, ist man zufrieden mit ihm, ja, beeindruckt von seinem ungeheuren Wissen. Eine Einschränkung jedoch gibt es: Es mangele ihm vielleicht ein wenig an Gefühl, an einem Bezug zu den Opfern. „Ich bin Historiker und keine Sozialarbeiterin, dachte ich, versprach aber, es mir zu Herzen zu nehmen und möglichst zu korrigieren“, versucht sich der Mann für die Zukunft vorzunehmen.

So wie Sarid seinen Erzähler zunächst porträtiert, pragmatisch, akribisch, nüchtern um Aufklärung bemüht, erinnert dieser vage an den großen Historiker und NS-Forscher Raoul Hilberg, der 1961 mit „Die Vernichtung der europäischen Juden“ eines der Standardwerke zum Holocaust veröffentlichte, eines der materialreichsten dazu überdies. Hilberg wurde hin und wieder vorgeworfen, sich fast ausschließlich mit den Tätern beschäftigt und das Schicksal der Opfer, wenn überhaupt, nur aus Täter-Perspektive betrachtet zu haben, gern auch dahingehend resümierend, es habe praktisch keinen jüdischen Widerstand gegeben.

Der Held redet von "Fleischklumpen"

Sarids Erzähler wird eher aus Zufall Historiker, seine Doktorarbeit behandelt die „Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Arbeitsmethoden deutscher Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg“, also Chelmno, Belzec, Treblinka, Sobibor, Majdanek und Auschwitz-Birkenau. Ihn reizten bei seiner Berufswahl, das gesteht er ein, „vor allem die technischen Details der Vernichtung: der Verwaltungsapparat, das Personal, die Methode“.

Dass das Ganze ihn eines Tages seelisch belasten könnte, daran verschwendet er keinen Gedanken: Nicht als er in Yad Vashem seine ersten Führungen macht. Und zunächst auch nicht in Polen, wo er als „Guide“ zu arbeiten beginnt und vor allem israelische Schulklassen durch die Lager-Gedenkstätten führt.

Eines Tages jedoch gehen die Gefühle mit ihm durch. Er beschreibt das als „Abweichung“ vom üblichen Drehbuch der Guides und erklärt einer Klasse in Birkenau: „Hier wurde die Illusion namens Mensch ausgelöscht“, bezeichnet die Schüler und Schülerinnen als „Fleischklumpen“ und imaginiert, dass auch deren Ende „schnell, elend und lächerlich sein“ werde.

Von diesem Zeitpunkt an schaut Sarids Historiker genauer hin, wen er hier alles durch Auschwitz, Treblinka oder Sobibor schleust. Was die Kinder und Jugendlichen davon mitnehmen und was nicht. Ob sie das wahre Ausmaß dessen ermessen können, sie trotz der Abstraktionen, der vielen Zahlen, der technischen Details der Vernichtungsmaschinerie überhaupt in der Lage sind, die individuellen Schicksale im Auge zu behalten. Er spürt aber auch andere Regungen, zum Beispiel, dass so manche aus den Schulklassen eine gewisse Bewunderung für die Nazis verspüren, für deren Konsequenz, „für die Entschlossenheit, für den Glanz, und Schneid, für die letzte gezielte und grausame Aktion, auf die nur Stille folgt.“

„Wie diese Geschichten meine pervertierte Seele faszinierten.“

Yishai Sarid behandelt dann in seinem knappen, kaum zweihundert Seiten zählenden Roman die vielen Seiten der israelischen Holocaust-Erinnerungskultur, die Ambivalenzen, die ihr innewohnen. Das beginnt allein mit den Motivationen seines Erzählers, der häufig betont, dass er Geld für seine kleine Familie verdienen muss, für Frau und Sohn, dass er ursprünglich nichts anderes als „sorglos und unaufgeregt durchs Leben segeln“ wollte. Und nun ist er selbst ein Rädchen in der Gedenkindustrie.

Einerseits wird ihm eine zu große Nüchternheit, zu wenig Empathie vorgeworfen. Andererseits ist offensichtlich, dass er sich das damalige Grauen immer weniger vom Leib halten kann. Er verlottert, lässt sich gehen, hat Ohnmachtsanfälle – und bemerkt bei sich selbst bedenkliche Auswüchse, als er zum Beispiel einer von ihm geführten Gruppe genauer als nötig erzählt, wie den Frauen vor dem Gang in die Gaskammer die Haare geschoren wurden: „Wie diese Geschichten meine pervertierte Seele faszinierten.“

Sarid lässt den Erzähler – das ist der formale Aufbau seines Buches – einen Bericht an den Direktor von Yad Vashem schreiben, wegen eines Vorfalls mit einem deutschen Filmregisseur, auf den der Roman am Ende zusteuert.

Vorher dekliniert Sarid praktisch alle möglichen Facetten des israelischen Holocaust-Gedenkens durch. Er erzählt von den Liedern und der israelischen Nationalhymne, die die Schüler und Schülerinnen in Polen singen, von der israelischen Flagge, in die sie sich beim Besuch der Gedenkstätten immer einhüllen; er lässt seinen Helden beratend tätig sein bei seltsamen Vorhaben wie einem Simulationsprojekt von Vernichtungslagern zu „rein pädagogischen Zwecken“, wie es zunächst heißt. Dann rutscht einem der Entwickler jedoch heraus, dass die Leute „grausame“ Computerspiele mögen würden. Und genauso wird der Held zum Berater bei einem Jubiläumsprojekt mit dem Titel „Machtdemonstration Israels in der Vernichtungsstätte – das Volk Israels lebt". Es soll eine Militäraktion nachstellen: Israelische Soldaten und Hubschrauber befreien jüdische Gefangene aus einem der KZs in Polen.

Trauer lässt sich schwer verordnen

„Was hättet Ihr getan“ ruft Sarids Guide einmal. Oder er erörtert, ob die Juden zu wenig Widerstand geleistet hätten. Womit er wiederum auf eine der eindrücklichsten Szenen dieses an eindrücklichen Szenen so reichen Romans zusteuert: Ob nicht die Israelis heute so sein müssten wie damals die Nazis, um überleben zu können? Gerade im Hinblick auf die Palästinenser und den Israel überwiegend feindlich gegenüber eingestellten arabischen Nachbarstaaten. Einer der Jugendlichen sagt plötzlich: „Dies ist ein Existenzkampf. Entweder wir oder die. Wir werden es nicht noch einmal geschehen lassen.“

Der israelische Schriftsteller Yishai Sarid, 1965 in Tel Aviv geboren.
Der israelische Schriftsteller Yishai Sarid, 1965 in Tel Aviv geboren.
© Daniel Tchetchik/Verla

Vom „Monster“ der Erinnerung spricht Sarids Held mehrmals, deshalb der Titel. Yishay Sarid umkreist dieses Monster, diese „Unheilsgebärerin“, wie Proust die Erinnerung einmal auch genannt hat. Im Kern läuft die Argumentation des Guides selbst in seinen dunkelsten Stunden darauf hinaus, sich gerade als Israeli „keine einzige Sekunde der Schwäche erlauben“ zu dürfen, „nur Kraft und Stärke" – so wie es sich eben die Abgesandten der israelischen Armee vorstellen bei eben jener Gedenkveranstaltung in einem der Vernichtungslager.

Eine ultimative Rezeptur für den Umgang mit der Erinnerung, mit der Gedenkkultur und der Gefahr ihrer Ritualisierung kann und will Yishai Sarid nicht anbieten. Trauer und so etwas wie Trauerarbeit lässt sich nur schwer verordnen, vor allem die richtigen, ultimativen Lehren daraus. Sein Buch selbst ist ein gewichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur. Der Erzähler ist wie Sarid, der einen großen Teil seiner Familie im Holocaust verloren hat, ein Nachgeborener, der gerade wegen seiner anfänglichen Leidenschaftslosigkeit umso besser das Vernichtungssystem als solches analysieren und sich mit ihm beschäftigen kann – und darüber hinaus die Rituale und Routiniertheiten des Gedenken hinterfragt, Sinn und Folgen so mancher Erinnerungsübung in den Erzählraum stellt.

Yishai Sarid hat eine Sprache gefunden, die kühl ist, die in den berichtenden Worten seines Erzählers auch etwas Unerbittliches bekommt, aus „Monster“ aber weniger eine literarische Erzählung als einen Thesenroman, einen Romanessay machen. Der Holocaust, das ist die Botschaft, bleibt eine offene Wunde, die sich nicht heilen lässt. Umso wichtiger ist die Erinnerung daran, das Ringen um die richtige, zweckmäßigste, sinnvolle Erinnerung.

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