Filmfestival Venedig: Die Huren und die Heiligen
Abdellatif Kechiche setzt mit „Mektoub, My Love: Canto Uno“ die Reihe der Filme fort, die in Venedig voyeuristisch auf Frauen blicken oder ihnen beim Leiden zusehen.
Zwei Mädchen werden von einem Polizisten missbraucht, eine illegale Hotelangestellte beobachtet das, aber der Fall wird vertuscht. Eine Aborigine-Frau wird in den 20ern im australischen Outback von einem weißen Farmer vergewaltigt, sie schweigt aus Scham. Eine junge Amerikanerin erleidet im viktorianischen Landhaus den puren Horror („Mother!“), eine bleiche Italienerin wird zwecks Kinderhandel zwangsgeschwängert („Una famiglia“) …
Nach all dem Elend freut man sich zunächst, wenn in Abdellatif Kechiches „Mektoub, My Love: Canto Uno“ junge Leute in der südfranzösischen Hafenstadt Sète einfach den Sommer genießen. Die Mädchen vor allem: super Bodys, sexy Bikinis, die Kamera kann sich nicht sattsehen. Ob in der Bar, in der Disco oder am Strand, vor allem fixiert sie die Hintern der Hübschen.
Unentwegt wird geflirtet und über Betrug diskutiert
Leidende Frauen oder voyeuristisch inszenierte Pin-ups, irgendwann hat man genug beim Filmfest Venedig. Kechiche, der für seine lesbische Liebesgeschichte „Blau ist eine warme Farbe“ 2013 in Cannes die Goldene Palme gewann, inszeniert in seiner autobiografisch gefärbten Coming-of-Age-Story das heterosexuelle Begehren und lässt einem in seinem Drei-Stunden-Film genug Zeit, über den Unterschied zwischen der Feier des weiblichen Körpers und plumpem Sexismus nachzudenken. Unentwegt wird geflirtet, über Eifersucht, Betrug und und die arabischen Vokabeln für Liebe geplaudert, unentwegt stiert die Kamera, von der extensiven Sexszene zu Beginn bis zur langen Disconacht gegen Ende.
Ein Versuch über das Glück, den Sexus, die Obsession. Kechiche überspannt den Bogen absichtlich, aber wozu? Warum veredelt er sein Alter Ego Amin, den hübschen, für den Sommer aus Paris nach Hause zurückgekehrten Drehbuchautor und Fotografen, zum weisen Beobachter? Warum lädt er das Geschehen religiös auf, indem er ein Bibel- und ein Koran-Zitat an den Anfang und eine ergreifende Ziegengeburt ins Zentrum setzt, untermalt von der Mozart-Arie „Laudate Dominum“?
Vivian Qus erzählt von Missbrauch und Korruption
Der australische Aborigines-Western „Sweet Country“ und Vivian Qus chinesischer Wettbewerbsbeitrag „Angels Wear White“, der einzige von einer Regisseurin in diesem Jahr, schildern die Schutz- und Rechtlosigkeit von Frauen, die Übermacht der Weißen, der Männer. Bei Vivian Qu steht eine riesige Marilyn-Monroe-Figur neben einem Vergnügungspark an Chinas Goldküste, man kann ihr an den gespreizten Beinen entlang unter den Rock schauen. Das bizarre Monument wird zur Chiffre für eine in lichten, kühlen Bildern stilisierte Erzählung über Schutzlosigkeit, Missbrauch und Korruption. Aber so nahe, wie der Film bei seinen Protagonistinnen und ihren verschlossenen Gesichtern bleibt, er beschränkt sich doch auf die Feststellung ihrer Wehrlosigkeit.
Hure, Heilige, Gewaltopfer – ein paar andere Frauenfantasien hat das Filmfest zum Glück auch im Angebot. Sally Hawkins als mit allen Wassern gewaschene Putzfrau („The Shape of Water“), Julianne Moore als fiese Vorstadt-Blondine („Suburbicon“), Frances McDormand als Rächerin („Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“). Davon bitte mehr.
Christiane Peitz