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Aufgewachsen in Czernowitz. Aharon Appelfeld (16. 2. 1932 - 4. 1. 2018).
© Imago/Leemage

Nachruf Aharon Appelfeld: Die Häuser der Erinnerung

Der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld ist mit 85 Jahren gestorben. Soeben erschien sein letzter Roman auf Deutsch.

Als er vor über 50 Jahren zu schreiben begann, führte er ein Thema in die israelische Literatur ein, das im damals noch jungen Staat unerwünscht war: das Leben europäischer Juden vor dem Krieg, am Rande der Katastrophe und in der Schoah. Auch er selbst ist als Überlebender des Ghettos von Czernowitz durch die Hölle dieser Zeit gegangen und war 14, als er 1946 nach Palästina kam. „Die Zionisten wollten mich zu einem neuen Juden machen“, sagte er über sich selbst, „aber ich bin immer ein alter Jude geblieben.“

Er hat recht behalten. Der Optimismus der zionistischen Gründerjahre ist längst verflogen, in der israelischen Literatur spiegeln sich die unlösbaren Konflikte, die die Staatsgründung ausgelöst hat, und auch die ihr vorausgegangene europäische Katastrophe hat nun ihren Platz in dieser Literatur. Das ist weitgehend Aharon Appelfeld zu verdanken, dessen Romane seit einem halben Jahrhundert das kollektive Gedächtnis wachhalten. Nun ist der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld am Donnerstag im Alter von 85 Jahren verstorben. Sein soeben erschienener Roman „Meine Eltern“ ist das letzte Werk, dessen deutsche Übersetzung er noch begleitet hat.

„Meine Eltern“ (aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Rowohlt Berlin, 271 Seiten, 22,95 €) ist 2013 im hebräischen Original erschienen. Schon der Titel deutet den autobiografischen Kern der Erzählung an, in der Appelfeld auch seine tief fundierte Poetik der Erinnerung entfaltet. „Die Häuser meiner Eltern und meiner Großeltern“, heißt es schon im ersten Absatz, „sind fast immer um mich, obwohl es sie schon lange nicht mehr gibt. Dies sind meine festen Orte, die ich immer um mich spüre.“

Sein letzter in Deutsch übersetzter Roman spielt im Sommer '38

Die Welt der Erzählung erwächst aus der Erinnerung, doch wir sehen sie nicht durch die Augen des jungen Appelfeld. Der Roman spielt im Sommer 1938, er zeigt eine Gruppe Juden aus dem gehobenen Mittelstand auf Urlaub an den Ufern des Pruth, am Fuße der Karpaten. Der Junge, dessen Perspektive wir folgen, ist zehneinhalb, vier Jahre älter, als der 1932 in geborene Appelfeld es damals gewesen ist.

Zeitliche Verschiebungen nimmt Appelfeld oft in seinen Romanen vor. Seine Erinnerungsarbeit ist nicht naiv, sie ist kunstvoll. In langen Jahren des Schreibens hat er gelernt, dass die Erinnerung selbst die Vergangenheit gestaltet: Sie trägt die Erfahrungen des älter gewordenen Autors in sie hinein und erlaubt es ihm, seine Erzählperspektive an einem frei gewählten Punkt auf der Zeitachse zwischen den Ereignissen und der Gegenwart anzusiedeln.

Appelfeld lässt den größeren Jungen, der hier erzählt, schon Zusammenhänge sehen, die einem kleineren Kind entgangen wären. Da sind zunächst seine Eltern, in ihren Charakteren deutlich voneinander unterschieden: Während der Vater sich dem Judentum schon entfremdet hat, fühlt die Mutter sich zur Tradition hingezogen, im Hause ihrer Eltern hatte sie die Regeln der Orthodoxie noch gekannt. Auch der Junge bekommt davon etwas zu spüren, wenn er seine Ferien bei den Großeltern verbringt – die beiden Häuser, die im ersten Absatz des Romans das Portal zur Erinnerung bilden, stehen zugleich für zwei Phasen in der Geschichte des europäischen Judentums.

Die Schauplätze gleichen einer symbolischen Landschaft

Appelfeld verwandelt die Schauplätze seiner Erzählung in eine symbolische Landschaft. Das Wasser des Pruth repräsentiert den Fluss der Zeit, und auch die städtischen Urlauber an seinem Ufer sind ihm ausgesetzt. Ihre Welt ist ins Schwanken geraten: Hoffnungslos wartet eine Frau auf den Liebhaber, der sie verlassen hat; eine andere Frau weiß aus der Hand zu lesen, viele wenden sich um Rat an sie, weil ihnen die Zukunft ungewiss geworden ist; und auch ein Schriftsteller macht dort Urlaub. Er ist ein Vorgänger des sich später erinnernden Autors, der in Echtzeit festzuhalten sucht, was sich hier bereits verflüchtigt.

Als Ort der Beständigkeit steht dem Wasser das Gebirge der Karpaten gegenüber, dort leben auch die Großeltern. Einmal reiten die Eltern mit ihrem Kind in die Berge hinauf, sie besuchen einen befreundeten Mönch und später eine jüdische Schenke für christliche Bauern, deren verborgener Innenraum den Juden der Berge als Synagoge dient.

Entwurzelte Juden am Fluss, und in den Bergen die Variationen der Frömmigkeit: In meisterhaft skizzierten, scharf umrissenen Szenen lässt Appelfeld vor den Augen des Jungen ein Kaleidoskop der Möglichkeiten entstehen, die es damals gegeben zu haben scheint. Es ist die Kunst dieser erzählten Erinnerung, dass wir ihre Bilder immer auch als unwirklich begreifen, als eine Vergangenheit im tiefsten Sinne des Wortes. Aharon Appelfeld tritt seinen Figuren niemals zu nahe, er lässt sie uns wie durch einen Vorhang sehen, den ein lautloser Wind bewegt.

Jakob Hessing

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