Gerhard Falkner besucht Czernowitz: Potemkins Meisterwerk
Schein und Stein: Gerhard Falkner machte einen Spaziergang durch das ukrainische Czernowitz, die schönste Stadt eines zerfallenden Landes.
Zum Glück wird das L vor dem V, mit dem Lviv, der ukrainische Name für Lemberg, anhebt, von einem im Russischen gebräuchlichen Weichheitszeichen begnadigt, das diesen Ort der Unaussprechlichkeit entreißt. Hier nun, im deutschen Lemberg, dem ukrainischen Lviv, Hauptstadt der Oblast Lwiw, verbringe ich auf dem Weg nach Czernowitz fünf Stunden vor dem palastartigen Bahnhof in der Sonne, bis mir mithilfe einer scharfen ukrainischen Salami der Schweiß auf der Stirn steht.
In schadenfroher Gedankenlosigkeit sehe ich zu, wie sich die Stunden beim Auf- und Abwandeln entlang der in die Stadt führenden sowjetischen Betonkonstruktionen aufreiben, während im Hintergrund das alte Lemberg seine Giebel und Türmchen spitzt. Auf Bahnsteig 4 erwartet mich ein blaues Ungetüm, das von einer wie eine rostige Faust geballten Lok angeführt wird. Die Fußbodenebene der Waggons befindet sich vom Bahnsteig aus in Augenhöhe; sobald man sie erklommen hat, erwarten einen rote Teppiche, die sich als vollendete Stolperhilfen und Rollkofferbremsen erweisen.
Die Liegewagenabteile erhellen in massive Eiche gerahmte Fenster, durch die es zwar der Sonne gelingt, nach innen, den Augen aber kaum, nach außen zu dringen. Golden glimmende Glanzstoffe mit Brokatmustern und durchbrochene Halbstores verkleinern, was die verschmierten Scheiben endgültig verhindern – den Blick aus den Fenstern, die zum Schutz gegen frische Luft auch nicht geöffnet werden können. Als das vom Aussterben bedrohte Geräusch ratternder Schienen anhebt, wird das Abteil außer von mir von drei sehr unterschiedlichen Frauen belebt, die sich alle mit Decken und Laken auf den roten Liegen einrichten.
Sobald es dunkel wird, beginnen ihre Mobiltelefone zu brummen und zu vibrieren, und die Frauen fangen an, von allen Seiten in kanonartig verschobenen Einsätzen mit gedämpften, aber unvorstellbar hohen Stimmen ihren Partnern zuzuwinseln. Die hohe Frauenstimme wirkt in diesem Kulturkreis, mit unnachahmlichen Rekordhöhen in Russland, als Schlüsselreiz, um männliches Fürsorgeverhalten auszulösen, wenn man es dezent ausdrücken möchte. Nach sechs Stunden liegen meine Nerven blank. Immerhin bin ich nun in Czernowitz.
Czernowitz, ein Potemkinsches Dorf
Czernowitz ist vermutlich die schönste Stadt der Ukraine, möglicherweise sogar, wenn man geeignete Maßstäbe anlegt, eine der schönsten Städte der Welt. Geeignete Maßstäbe heißt, das Schöne als Teil eines Systems zu begreifen, das sich erst durch Differenz ausbildet. Czernowitz ist ein Potemkinsches Dorf, in dem die glanzvolle Fassade der Donaumonarchie eine Bühne bildet, auf der man seine öffentliche Person zur Schau trägt, während sich dahinter noch immer die zerschlagene Welt des Ostblocks, der Improvisation und des sich selbst organisierenden Gerümpels verbirgt.
Trotzdem entsteht durch diese Ambivalenz eine Verblüffung erzeugende Augenweide. Dabei ist die Welt von Czernowitz nicht auf die Fassaden beschränkt, denn seit Wien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts das Gesicht der Kronländer scharf im Auge behält, entstehen überall Stadtbilder, die auf der Stilsicherheit, der überlegenen Proportion, dem repräsentativen Gestus und der unbedingten Gediegenheit habsburgischer Baukunst beruhen.
Die Fassaden setzen sich fort in den Maßen der Räume, der Solidität der Mauern, der Mächtigkeit der Tore, der Opulenz der Treppenhäuser, den hohen Decken, mehrflügeligen Zimmertüren und formidablen Fenstern. Nur nehmen von außen nach innen die Abstufungen des Abblätterns, der Auflösung und der Verschattung zu. Die Wirklichkeit beschreibt ein Gefälle vom Schein als ästhetischem Vorwand zum Sein als metabolischer Tatsächlichkeit.
Puppe in der Puppe: Die Stadt gleicht einer Matrjoschka
Und zwar geschieht dies in mehrfach gestaffelten Kulissen, ausgehend vom prächtigen Kern der Altstadt hin zu den immer noch würdigen, aber weniger elaborierten Fassaden im nächsten Gürtel. In umgekehrter Reihenfolge könnte man sagen: Das Kleine verhält sich zum Großen wie das Große zum Ganzen, und was die Verschachtelung anbelangt, so gleicht die Stadt einer Matrjoschka, einer Puppe in der Puppe. In Intervallen der Verwandlung steigt die Stadt ihren Hügel hinunter zum Flüsschen Pruth, um ganz unten in ihre letzte Kluft zu steigen, den sozialistisch-proletarischen Overall. Was dann jenseits davon im Gürtel der Schlafstädte Sache ist, ahnt niemand, außer denen, die dort schlafen.
Oben aber, an den Hauptstraßen, reihen sich die Theater, Bürgerpaläste und öffentlichen Gebäude in einem kaum je von Stilsünden unterbrochenen fliegenden Wechsel der Pastelltöne zwischen Kaisergelb, Taubenblau, Mintgrün und Mokka, ausgeführt im Wiener Sezessionsstil, Jugendstil, Historismus und gelegentlichem maurisch akzentuiertem Tingeltangel. Das Tüpfelchen auf dem „i“ bilden die bunten Kirchen, von denen die Nikolaikathedrale ihrer verdrehten Kuppeln wegen „die besoffene Kirche“ heißt.
Der legendäre Ruf der Stadt verbreitet sich über den halben Erdball.
Egal ob in Laibach, Preßburg, Krakau, Lemberg, Brünn oder Prag, in Lviv, Bratislava, Ljubljana, Brno, in Maribor oder Triest, überall zieht sich entlang der Verwerfungszonen der ehemaligen Großmächte Russland, des Osmanischen Reichs und Österreich-Ungarns dieser rote Faden habsburgisch geprägter Repräsentation, der sich trotz der fortwährenden nationalen Umpolungen besonders nach den beiden Weltkriegen offensichtlich noch immer bewährt.
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte Czernowitz seine Blüte, als es, angeführt von der Kultur der deutschen Sprache, seine größte multikulturelle Verdichtung erlebte, mit Deutschen, Ruthenen (Ukrainern), Polen, Rumänen und einer großen, vielfach chassidisch orientierten jüdischen Bevölkerung. Fern von den Epizentren der klassischen Moderne entstand eine erstaunliche literarische Kultur, die mit dem Werk von Paul Celan Weltgeltung erlangte.
Besonders das vom jüdischen Bürgertum geprägte Musik- und Theaterleben, das sich bis 1940 behauptete und an das noch zu Sowjetzeiten angeknüpft werden konnte, mit Auftritten von Arthur Rubinstein, Emil Gilels und David Oistrach, von Mstivlav Rostropovich und Svjatoslav Richter, die der mit der Jiddisch singenden Sidy Thal verheiratete Pinchas Fallik für den Saal der Czernowitzer Philharmonie verpflichten konnte, untermauerte den legendären Ruf der Stadt – und verbreitete sich durch den Exodus der Juden über den halben Erdball.
Zwischen der Medaille und ihrer Kehrseite
Von der Panas Saksahans’kyi-Straße, wo sich das Geburtshaus Celans befindet, gehe ich altstadtauswärts Richtung rechtes Pruthufer und bemerke Schritt für Schritt, wie sich die Verhältnisse zwischen Hausfront und Hinterhof, zwischen der Medaille und ihrer Kehrseite, spiegelbildlich zu den oberen Stadthäusern, nur im Maßstab sich verkleinernd, wiederholen. Die Spiegelungen sind unendlich.
Die Fassade promeniert weiter straßennah mit Stuckgirlanden und Portalen, wird aber zunehmend einstöckig, mit abblätterndem Putz, zu jenem klassizistischen Trotz neigend, wie man ihn auch aus den kleineren Städten Ungarns und Tschechiens oder dem Umland von Potsdam kennt, bis man nahe am Ufer auf einen spätindustriellen Gürtel stößt, mit Schornsteinen, Pipelines, Silos, Fabrikruinen und Zeugnissen kommunistischen Architektur-Elends.
Und was ist mit Putin und der Annexion der Krim? Ich kann es weder in einigen Worten zusammenfassen, noch eine eigene Meinung bieten. An der Unverrückbarkeit des einmal eingeschlagenen westlichen Medienkurses richtet auch die Tatsache nichts aus, dass man „vor Ort“ ist. Vor Ort ist heute die ganze Welt, auch wenn sie sich das nur einbildet.
Der Dichter Gerhard Falkner, Jahrgang 1951, war in den letzten Wochen Stipendiat der Korporation Meridian Czernowitz. Zuletzt veröffentlichte er bei Kookbooks „Pergamon Poems“.
Gerhard Falkner