Berlin vor 100 Jahren: Die Hauptstadt der Häutungen
Abreißen, neu bauen – und Berlin boomt: Ein Bildband zeigt, wie aus der Residenz eine Millionenmetropole wurde. Mittelalterliche Altbauten verschwanden genauso wie viele historistische Neubauten.
Das 19. Jahrhundert war für Berlin eine Zeit der Verwandlung. Aus der preußischen Residenzstadt wurde die Hauptstadt des aggressiv auftrumpfenden Deutschen Reichs, aus einer bescheidenen Gewerbe-, Beamten- und Garnisonsstadt einer der größten europäischen Industriestandorte. Der Architekturkritiker Werner Hegemann nannte Berlin abschätzig „Mietskasernenstadt“.
Nach der Reichsgründung 1871 wuchs Berlin in einem Tempo, wie man es sonst nur aus Nordamerika kannte. Mark Twain, der damals fünf Monate in Berlin lebte, verspottete die Stadt als „Spree- Chicago“. 1871 lebten 800000 Menschen in Berlin, 1905 waren es bereits mehr als zwei Millionen. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurden im Ballungsgebiet von „Groß-Berlin“ fast vier Millionen Einwohner gezählt. Nur London war in Europa größer.
Das Stadtbild galt als minderwertig
Zu ihrer Vergangenheit pflegt die Stadt bis heute ein unsentimentales Verhältnis. Dass im Zuge des großen Umbaus weite Teile des mittelalterlichen und barocken Stadtgefüges abgerissen wurden, quittierten die Bewohner mit einem Achselzucken. Berlin ist eine Stadt ohne Gedächtnis. Während in Paris Fotografen offiziell beauftragt wurden, die historische Architektur vor und während ihrer radikalen Umgestaltung durch den Präfekten Eugène Haussmann zu dokumentieren, stießen Berliner Fotografen wie Friedrich Ferdinand Albert Schwartz mit ihren frei entstandenen Aufnahmen auf Desinteresse. Man hielt das eigene Stadtbild ohnehin für minderwertig. Während in Paris jede einzelne Straße „ihren eigenen Geruch und ihre eigene Geschichte“ habe, verfüge Berlin bloß über Straßen, die „ihre Leere herausschreien“, konstatierte Siegfried Kracauer.
Zum Glück gibt es Fotos, die das alte, im Historismus untergegangene Berlin festhalten. Fast zweihundert Aufnahmen aus den Jahren 1850 bis 1914 versammelt der von der Fotohistorikerin Miriam Paeslack zusammengestellte Bildband „Berlin im 19. Jahrhundert“, der Abriss und Aufbruch lakonisch nebeneinanderstellt. Die Bilder, die mit Plattenkameras gemacht wurden und deshalb oft eine besonders große Tiefenschärfe besitzen, führen zurück in eine Stadt, in der selbst die Hauptverkehrsstraßen erstaunlich leer, beinahe ausgestorben wirken, bevölkert von Fußgängern, Menschen mit Handkarren und Pferdefuhrwerken.
Auf einer um 1856 entstandenen Panoramaansicht des Architekturfotografen Leopold Ahrendts vom Stadtschloss posieren Männer mit übergroßen, biedermeierlich anmutenden Zylindern im Lustgarten, Figuren wie aus einer Novelle von E.T.A. Hoffmann. Weil die Belichtung lange dauerte, ist von einigen nur der Schatten geblieben. Gespensterstadt. Auf den Fotos zeigt sich eine Welt, die gleich in doppelter Hinsicht verschwunden ist. Die Altbauten standen der Stadtentwicklung im Weg, aber auch viele Neubauten sind ihnen inzwischen ins Nichts gefolgt.
Bauarbeiter in Backsteingebirgen
In Berlin, der Stadt, die laut Karl Scheffler dazu verdammt ist, „immerfort zu werden und niemals zu sein“, reichen die Bauzyklen bloß für eine, maximal zwei Generationen. Eine Aufnahme vom Abriss des Palais Itzig an der Ecke Burg-/Neue Friedrichstraße für den Bau der Börse im Jahr 1858 zeigt Bauarbeiter in Backsteingebirgen. Der Neubau, der immense 700000 Taler kostete, musste bereits um 1880 erweitert werden und brannte 1944 nach einem alliierten Luftangriff aus.
Arbeit war in dieser Ära hauptsächlich eine körperliche Angelegenheit. Die Fotos von den Kanalisationsarbeiten in der Kreuzbergstraße (1886, Georg Bartels), von Straßenarbeiten an der Dircksenstraße (1898, Heinrich Zille), von der Errichtung des Gasometers an der Müllerstraße (1864, Fotograf unbekannt) oder von einer Baustelle an der letzten Berliner Windmühle an der Fidicinstraße, sind Wimmelbilder, die man am liebsten mit der Lupe absuchen möchte. Zu sehen sind größtenteils bärtige Männer in Hemdsärmeln und strahlend weiß gestärkten Hemden, die Schubkarren schieben, Steine tragen oder manchmal auch bloß winken.
Den Abriss des Alten Doms am Lustgarten, der von Schinkel im frühen 19. Jahrhundert klassizistisch umgebaut worden war, hat F.A. Schwartz mit einer ganzen Serie von Aufnahmen begleitet. Fassaden und Innenwände wurden Stein für Stein zerlegt und das so gewonnene Baumaterial auf Lastkähnen über die Spree abtransportiert, nur den schlanken Kuppelturm hat man gesprengt. Der Neue Dom, eine wilhelminische Sahnetorte, steht leider bis heute.
Viele Fotos aus dem Band sind letzte Grüße. Sie rufen: Erinnere dich! Aber wie soll man sich erinnern in einer Stadt, die gerade einen neuen Bauboom erlebt, zur Eigentumskasernenhauptstadt wird und dafür im Bezirk Mitte die Spuren der DDR-Vergangenheit abräumt? Stadtgeschichte als Verlustgeschichte. Ein Foto zeigt den Neuen Markt um 1880. Vor der Marienkirche erhebt sich eine Zeile drei- und viergeschossiger Barockhäuser.
Martin Luther statt der Destille
„J. Blümchen Uhren Handlung“, „Posamentier u. Wäsche-Geschäft“ oder „Destillation J. Lüdeke“ steht auf den Geschäftsschildern. 1904 sind die Gebäude abgerissen, an ihrer Stelle steht Luther auf seinem Denkmalsockel. Aus einem von Gerüchen überlagerten Marktplatz ist eine sauber durchgefegte Gute Stube geworden.
Um die Jahrhundertwende ist die Hauptstadt von der Idee besessen, möglichst elegant zu erscheinen. „Neuerdings ist ganz Berlin von einer fast fieberhaften Gier beherrscht, es den upper ten thousand, so gut es geht, gleichzuthun, vornehm und weltmännisch zu erscheinen“, schreibt der Kritiker Ferdinand Hardekopf 1899. „Noch nie hat man solchen Toilettenluxus auf der Friedrichstraße gesehen wie in diesem Frühling“, heißt es in seinen gerade wiederaufgelegten „Briefen aus Berlin“ (Nimbus, Zürich 2015, 224 S., 28 €). Der Befund erstreckt sich auch auf die Architektur, denn natürlich handelte es sich beim Historismus mit seinem verschwenderischen Zierrat um die hohe Kunst der Verkleidung.
Die Hässlichkeit des Fortschritts
So malerisch und mysteriös wie das schiefgassige, von gebeugten Häusern gesäumte Paris auf den Fotos von Eugène Atget war Berlin am ehesten im Krögel. Das mittelalterlich geprägte Viertel zwischen Spree und Jüdenstraße galt wegen seiner engen Bebauung als unhygienisch. Es war ein Kriminalitätsschwerpunkt und sozialer Brennpunkt der Kaiserzeit. Doch Fotografen wie Waldemar Titzenthaler, Rudolf Dührkoop und vor allem Heinrich Zille sahen in ihm etwas anderes: einen Ort der Poesie. Auf ihren Bildern sitzen Kinder vor pittoresk zerbröselnden Fassaden, Eckensteher blicken unter sich müde aufstützendem Fachwerk in die Kamera. 1935 wurde der Krögel für den Neubau der Reichsmünze abgerissen. Manchmal sieht der Fortschritt hässlich aus.
Miriam Paeslack: Berlin im 19. Jahrhundert. Frühe Photographien 1850–1914. Schirmer/Mosel, München 2015. 232 S., 49,80 €
Christian Schröder
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