Jazzfest Berlin: Die glücklichen Farben des Spektrums
Gesten von gestern, Helden von heute, Meisterinnen von morgen: Eindrücke vom Berliner Jazzfest 2016.
Konversation hieß das Zauberwort, das Festivalleiter Richard Williams für das Jazzfest in der vergangenen Woche ausgegeben hatte. Und was war im Haus der Berliner Festspiele und einigen anderen Spielorten nicht alles an Stilen und Dialekten dabei. Für jemanden, der noch nie gehört hat, wie man Standards skelettiert, bis sie sich im Spiel der Formandeutungen und Themenpartikel fast auflösen, ist die Art, wie der Pianist Brad Mehldau und der Saxofonist Joshua Redman sich über Bebop-Klassiker wie Charlie Parkers „Ornithology“ oder seinen Blues „Cheryl“ hermachen, eine Schule des Staunens. Die beiden zerdehnen und verlangsamen die Abläufe. In aller Seelenruhe überlässt Mehldau es seiner Linken, harmonische Minimalstichworte zu liefern, während die Rechte ausruht und Redman Kapriolen schlägt, bevor sie wieder gemeinsam in den Übermut der Themen münden.
Weniger formelhaft kann man so etwas nicht angehen. Insbesondere Mehldaus Talent besteht seit Jahren darin, auch dem verbrauchtesten Stück noch eine musikalische Wendung abzulauschen, die nicht schon in den Fingern sitzt. Und doch führt dieses Zwiegespräch letztlich nur hochentwickelte Routinen vor, in deren Reiz-Reaktions-Virtuosität der eine den anderen kaum noch herausfordert.
Präzision und Puls
Viel mehr aus dem Moment geboren sind die Klangmassen, die Ravi Coltrane, Matthew Garrison und Jack DeJohnette vor sich herschieben. Sie bauen sich auf aus intimen Situationen und dynamischen Kontrasten. Das Konzert beginnt sogar mit dem 74-jährigen DeJohnette allein am Klavier, bevor er zum Schlagzeug wechselt, wo er in einem Solo auf diatonisch gestimmten Toms später richtige Melodien spielt. Aber so, wie er sich aus perkussiven Ruhezonen zu mächtigen Ausbrüchen aufschwingt, so baut Garrison auf dem fünfsaitigen E-Bass mit Tapping-Techniken der rechten Hand, die sonst nur Gitarristen nutzen, und einem digitale Geister ausbrütenden Live-Sampling, eine vielstimmige Gewalt auf, über der Ravi Coltrane mit Tenor, Sopran und einem herrlich oboenhaft klingenden Sopranino seine Kreise zieht. Und wenn aus dem Gären dann schemenhaft John Coltranes „Giant Steps“ auftaucht, ereignet sich etwas, das über jedes Zitat hinausgeht. DeJohnettes Auftritt war nach einem deutlich kraftloseren Konzert vor drei Jahren ein Höhepunkt: Auf seine alten Tage bewegt er sich im Magma dieser Band so frei zwischen Präzision und Puls, wie es diese aus den Energien der späten sechziger Jahre lebende Musik erlaubt.
Aus der Zeit gefallen dagegen das Free-Jazz-Brett, das einem 50 Jahre nach seiner Gründung bei den alten Jazztagen das 18-köpfige Globe Unity Orchestra nun vor den Kopf schlägt. Einige Masochisten jubelten, aber diese Entfesselung gemeinschaftlicher Energien in der Dauerekstase vernichtet das Individuum, das sie einst befreien wollte, in der Zwangskollektivierung. Trompeter wie Manfred Schoof oder Tomasz Stanko werden hier im Schweiße gnadenlosen Bierernsts zugeblökt und zugehupt. Und weil keiner Gehör findet, versucht man einander zu übertönen. Es war der einzige auratische Augenblick, als sich Evan Parker mit seinem Sopransaxofon zum Solistenmikrofon durchkämpfte und einige Sekunden lang mit sich überschlagenden Zirkularattacken den Rest der Bande in einem Akt ultimativer Überhöhung in die kakofonischen Schranken verwies.
Wie viel mehr Glück liegt im Verschwinden des Einzelnen im Kollektiv, wie sie Nik Bärtschs Quartett Ronin zusammen mit der HR-Bigband unter Jim McNeely praktiziert. Aus sich überlagernden Minimal-Patterns, mit deren Kombination der Schweizer Pianist seit Jahren experimentiert, entsteht hier ein in die Glieder fahrendes Feld von Ostinato-Wellen. Die Klangmacht der großen Besetzung ist überzeugend, die zusätzlichen kompositorischen Farben sind es nicht unbedingt. Denn das musikalische Herz schlägt, so metrisch krumm es sich bei dieser „Ritual Groove Music“ (Bärtsch) anstellt, bei seinem Leiter, Drummer Kaspar Rast und Bassist Björn Mayer.
Temperamentlosigkeit und Feuer
Ungemein subtiler, was die Arrangements angeht, zeigte sich das 12-köpfige Ensemble der norwegischen Saxofonistin Mette Henriette. Streicherflageoletts und rhythmisch akzentuierte Atmungsgeräusche der Bläser gereichen einer elegischen, auf ihre Weise minimal verfahrenden und in Schönheit fast ertrinkenden Flächenmusik von kleinster melodischer Bewegtheit zu außerordentlichem Reiz. Bei ihr allerdings kann man sich fragen, was das Live-Erlebnis ihren auf Platte differenziert dokumentierten Kompositionen noch hinzufügt: den Gazevorhang, der sich während des Konzerts als Nebelersatz zwischen Bühne und Zuschauerraum senkt, oder die traumverlorene Unbewegtheit, mit der die 25-jährige Mette Henriette ihr Spiel zelebriert?
Gegen Feuerköpfe wie die 46-jährige Altsaxofonistin Angelika Niescier im Quartett des Pianisten Florian Weber oder deren 27-jährige Instrumentenkollegin Anna-Lena Schnabel im Quartett der Pianistin Julia Hülsmann wirkt sie wie die personifizierte Temperamentlosigkeit. Dafür ist sie sich ihrer Mittel in einem Maße sicher, wie es die außerordentlich begabte, im permanenten Zuviel des Beeindruckenwollens gefangene Niescier erst noch lernen muss.
Wahrscheinlich hat dem Jazz immer die Gefahr des Schaulaufens innegewohnt. Ihr verfällt auch das Steve Lehman Octet, eines an der Spektralmusik von Tristan Murail geschulten Ensembles, das im Abstraktionsgrad seiner mit mikrotonalen Effekten spielenden Stücke (besonders in den Schwebungen von Chris Dingmans Vibrafon) so auf die Erfahrung seiner Mitglieder angewiesen ist, dass es ein Wunder ist, dass es seinen Drummer Tyshawn Sorey, der zwei Tage zuvor mit Myra Melfords Snowy Egret aufgetreten war, überhaupt durch Cody Brown ersetzen konnte. Lehmans Musik funkelt in ihrem Intellekt und ihrer Energie, doch sie hat keinerlei menschliche Wärme.
Ihr konnte man am Sonntag bei Wadada Leo Smith und Organist Alexander Hawkins in der Gedächtniskirche begegnen. Französisch schwelgende Register, messiaenhafte Flötentupfer, Toccatenhaftes, dazu der Atem von Smiths Trompete, der das blaue Oktagon mindestens doppelt so weit erscheinen ließ. Unter den vielen glücklichen Einladungen, die Richard Williams dieses Jahr ausgesprochen hat, war die des fast 75-jährigen Meisters sicher die glücklichste.
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