„so tun als ob heißt lügen“ von Dominique Goblet: Die Geister der Vergangenheit
Fakt, Fiktion, Fragment: Abseits jeglicher Labels erzählt Dominique Goblet in „so tun als ob heißt lügen“ autobiografisch gefärbt von Ambivalenzen in Kunst und Leben.
Der Comicautor Dylan Meconis hat unter dem Titel „How To Not Write Comic Criticism“ vor fünf Jahren eine Art Anti-Anleitung für Comic-Rezensionen verfasst. Sie ist noch immer brandaktuell, kurzweilig und absolut lesenswert. Für die hier vorliegende Rezension sind drei seiner Punkte relevant: Meconis äußert Kritik an dem Begriff Graphic Novel, der auch hierzulande die Lager spaltet. Er erläutert, warum ihm das sexuell konnotierte Adjektiv „graphic“ auch bei der sogenannten Graphic Memoir unglücklich gewählt zu sein scheint. Und beschwert sich darüber, dass über-ambitionierte Rezensenten dazu neigen, selbstverständliche medienspezifische Eigenheiten wie Sprechblasen und Lettering mit Bedeutungen zu überfrachten – statt sie als konventionelles Vehikel des Mediums zu sehen, das bei der Lektüre unsichtbar werden sollte.
Die liebende, lügende Mutter
Mit Meconis Kritik im Hinterkopf, liest (und schreibt) sich eine Comic-Kritik mit einer zusätzlichen Dosis Achtsamkeit ob des stets drohenden fauxpas.
Die gesammelten Un(ge)schicklichkeiten werden in der Präsentation und Besprechung von Dominique Goblets „so tun als ob heißt lügen“ allerdings bislang erfolgreich gemieden. Dies gilt sowohl für die Rezeption des französischen Originals von 2007 als auch für die der unlängst erschienenen englischen und deutschen Ausgaben. Das liegt wohl nicht zuletzt an diesem spezifischen Comic, der dem potentiellen Schubladen-Denker die gute alte Feuilleton-Routine verleidet: Wir lernen nichts über ein unterrepräsentiertes Land, es treten keine Zeitzeugen auf und über Krankheiten wird auch nicht gesprochen. Wie Frank Meyer für Deutschlandradio Kultur zurecht feststellt, handelt es sich um ein „eigenartiges“ Buch, oder auch (so der englische Verleger) „a memoir unlike any other“.
Auf der Meta-Ebene thematisiert das Werk – man beachte den Titel – den schmalen Grat zwischen Fakt und Fiktion; in der Porträtierung der oft, aber nicht immer, traurigen Gestalten bietet es Slice of Life vom Feinsten. Goblets Unterfangen ist durchaus autobiografischer Natur: Sie präsentiert Momentaufnahmen familiärer und partnerschaftlicher Bindungen – dabei ist sie aber weder geschwätzig, noch narzisstisch, noch besonders „graphic“ im explizit sexuellen Sinne.
Damit passt der Comic definitiv nicht in die wunderbar gehässige Zusammenfassung Johnny Ryans, der dem Genre in „every autobio-comic ever written“ genau diese Eigenschaften attestiert. Der Comic erzählt in Fragmenten und nicht-chronologisch: In einem stummen Epilog sehen wir die Figur Dominique als Kind: Sie weint, weil ihre Strumpfhose ein Loch hat. Die Mutter beruhigt die Tochter mit Hilfe eines schlichten Tricks. Die Strumpfhose wird einfach ausgezogen und andersherum wieder angezogen. Das Kind strahlt. So tun als ob heißt lügen.
Schatten allerorten
Die liebende, lügende Mutter aus dem Prolog erleben wir in einer weiteren Rückblende in Dominiques Kindheit als überforderte Täterin, die ihre Tochter auf dem Dachboden anbindet. Der Vater sitzt im Wohnzimmer und schaut Formel Eins. Krasse Szenen, ambivalente Beziehungen. Zur Mutter, zum Vater, zur Tochter, zum neuen Freund. Die Geister der Vergangenheit und Gegenwart tauchen hier und da auf, nicht nur metaphorisch, sondern auch grafisch. Schatten allerorten.
Hier wird der dritte Punkt aus Meconis Liste relevant. „so tun als ob heißt lügen“ zwingt den Rezensenten nämlich dazu, das Augenmerk auf die comicspezifischen formalen Eigenheiten zu legen. Oliver Ristau gewährt dem Comic für das Magazin art einen Platz in den Top Ten relevanter Kunst-Comics und findet damit eine Bezeichnung die mehr sagt als „Graphic Novel“. Ein treffendes Adjektiv für das Werk wäre sicherlich „arty“, abzüglich der spöttischen Note.
Auslassungen und Andeutungen machen den Comic wahr
Warum, erklärt folgender Allgemeinplatz-Satz, der hier seine volle Berechtigung hat: Goblet lotet die Möglichkeiten des Comics neu aus. Und die der Comic-Autobiografie. Die Zurückhaltung im Text macht Platz für die verschiedenen Bildsprachen. Goblet zeichnet mal lieblich rosa und fein, mal zelebriert sie ockerfarbene Matsch-Orgien. Sowohl Menschen als auch Buchstaben sind filigran geschwungen, winden sich unheilvoll, oder werden zu monströser Masse. Das Lettering gehört ebenso zu den Protagonisten wie ihre Gliedmaßen.
Dieses Stilmittel dürfte den meisten Comic-Lesern aller-spätestens seit David Mazzucchellis Asterios Polyp vertraut sein, ist aber hier besonders eindrucksvoll umgesetzt. Es charakterisiert die Sprechenden und übersetzt die Emotionen der Erzählerin: Der ebenso selbstherrliche wie unsichere Vater doziert in dicken schwarzen Lettern; die aggressiv-krakeligen Buchstaben seiner Partnerin unterstreichen ihre schrille Dumpfheit. Immer wieder werden die Dialoge unterbrochen und pausiert der Blick auf ganzseitigen schwarz-weißen Panels: Klassiker der urbanen „Nicht-Orte“, Atomkraftwerke, Supermarktparkplätze. Melancholie allerorten.
Nicht-Orte, Nonverbales, Nicht-Lineares, Unvollständiges. Dass dieser Comic tatsächlich so atmet, wie es ihm der Verleger und Autor Jean-Christophe Menu im Vorwort attestiert, liegt an diesen Negationen. Die Pausen, die Auslassungen und die Andeutungen machen den Comic wahr. Die Patina tut ihr Übriges. Goblet hat nämlich zwölf Jahre an dem Werk gearbeitet. Es hat sich gelohnt.
Dominique Goblet: so tun als ob heißt lügen, Avant-Verlag, Übersetzung aus dem Französischen von Annika Wisniewski, 148 Seiten, 29,95 Euro
Marie Schröer
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