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Beziehungsgeometrie: Mazzucchelli hat in dem jetzt für Erlangen nominierten "Asterios Polyp" jeder Figur grafisch besondere Eigenheiten zugeschrieben.
© Eichborn

Graphic Novel: Die perfekte Blaupause

Mit „Asterios Polyp“ entwirft David Mazzucchelli den großen Comicroman und lotet dabei die Grenzen des grafischen Erzählens aus.

Ein „Papierarchitekt“ ist ein Architekt, dessen Ruhm allein auf seinen Entwürfen basiert. Asterios Polyp, Held der gleichnamigen Graphic Novel, ist ein eben solcher Architekt: Kein Projekt aus seiner Feder hat je das Zeichenbrett verlassen und sich in die dreidimensionale Welt eingeschrieben. Für den Comicautor und -zeichner David Mazzucchelli ist die Bezeichnung „Papierarchitekt“ hingegen mehr Lob als Kritik: Er hat ein perfektes Panel-Layout entworfen, es mit glaubwürdigen Figuren gefüllt und zwei getrennte Ausdrucksformen – Wort und Bild – minutiös auf Papier verbunden. Kurzum: Sein magnum opus nimmt in der zweiten Dimension Gestalt angenommen.

Im Gegensatz zu seinem Protagonisten hat sich Mazzucchelli nicht ganz so zielstrebig nach oben gearbeitet. Erst im vergangenen Jahr konnte er mit Asterios Polyp seinen großen Durchbruch feiern. Sein bisheriges Werk oszillierte zwischen düsteren Darstellungen in den Superhelden-Comics Daredevil und Batman: Year One (gemeinsam mit Autor Frank Miller) und einer eher experimentellen Phase, in der er mit Paul Karasik die viel gerühmte Comicadaption von Paul Austers City of Glass schuf. Vor allem für innovative grafische Ideen, wie Sprechblasen, die aus dem Innersten von Austers Figur Peter Stillman zu kommen scheinen, wurde die Adaption gelobt. Der eigentliche Grundriss für Asterios Polyp findet sich jedoch in Mazzucchellis eigener expressionistischen Anthologie Rubber Blanket (auf Deutsch als Discovering America bei Edition Moderne erschienen).

Dekonstruktion eines Lebens

Aus der Kurzgeschichte „Discovering America“ hat Mazzucchelli die Idee für die Konvertierung der Weltkugel auf eine zweidimensionale Fläche übernommen und auf Asterios Polyp übertragen. Doch statt eine allumfassende Karte zu erstellen, vermisst Mazzucchelli in seiner Graphic Novel nur das Leben eines einzelnen Individuums, Asterios Polyp. Zu Beginn der Handlung steht der tragische Held vor seinem abgebrannten New Yorker Apartment. Ohne Hab, Gut und jede weitere Erläuterung verlässt der 50-jährigen die Großstadt und wählt die amerikanische Kleinstadt Apogee – eine Bezeichnung für einen Körper, der sich im Orbit um die Erde bewegt – als Rückzugsort. Dort beginnt er mit der gedanklichen Dekonstruktion seines Lebens, die in Form von Rückblicken konstruiert ist.

Rückzugsort: Nach der Abkehr von der Großstadt findet sich die Hauptfigur in ungewohnten Situationen wieder.
Rückzugsort: Nach der Abkehr von der Großstadt findet sich die Hauptfigur in ungewohnten Situationen wieder.
© Eichbron

Zur Unterstützung auf dieser Reise in die eigene Vergangenheit bekommt Asterios von Mazzucchelli seinen eineiigen Zwillingsbruder zur Seite gestellt, der bei der Geburt starb: Ignazio Polyp fungiert als allwissender Erzähler, als Stimme aus dem Off, die den überlebenden Bruder charakterisiert. Dabei nimmt der tragische Held Asterios langsam neue Formen an und entwickelt sich zu einer unschönen Gestalt: Ein Mensch, der so überzeugt von sich selbst ist, dass er nur noch ein Thema findet: sich. Selbst seine philosophischen Ausflüge über die Wahrnehmung und die ursprüngliche Form des Menschen nach Aristophanes, beleuchten nur Aspekte der eigenen Person. Neben ihm scheint keine weitere Figur mehr Platz im Comic zu haben, nicht einmal seine eigene Frau, Hana Sonnenschein.

In der wohl romantischsten Szene der Comicgeschichte treffen Asterios und Hana aufeinander: Auf einer Universitätsparty prallt die blau-kalte, mechanische Struktur von Asterios auf die rote, weiche und warme Hana. Dabei scheint er sie zunächst zu umgarnen, wird aber selbst von ihrer Form, die sich grafisch an seine anschmiegt, angezogen. Statt sich wieder abzustoßen, passiert etwas Unerwartetes: Zwei ungleiche geometrische Formen, die nicht zusammenpassen wollen, ziehen sich an, verschmelzen zeitweise sogar zu einer einzigen. Trotz dieser grafischen interessanten Idee deuten sich hier bereits die Grenzen des grafischen Erzählens an; die Verschmelzung – wie auch die Trennung – der beiden Figuren ziehen sich durch den ganzen Comic. Dabei nehmen sie die Dialoge vorweg, lassen dem Leser kaum Platz die Beziehungsprobleme zu erahnen, bevor sie visualisiert werden.

Ein Prinzip wie „Peter und der Wolf“

Nicht nur den beiden Protagonisten verleiht Mazzucchelli ihre eigene grafische Gestalt. Vom Prinzip her ähnelt der Comicroman Peter und der Wolf, da jede Figur in Asterios Polyp ihre eigene visuelle Stimme erhält. Dargestellt wird dies durch ein individuelles Lettering, die Gestaltung der Buchstaben im Comic, für die Mazzucchelli mit einem Harvey Award ausgezeichnet wurde). Jede Figur stimmt mit ihrer eigenen Persönlichkeit in den griechischen Chor ein, den Clemens J. Setz für „Die Welt“ in der Graphic Novel erkennt. Setz betont dabei zu Recht die Rolle des toten Zwillings Ignazio, der außerhalb der Zeit steht und so mit seinen „Bild-Essays“ den gesamten Chor zu dirigieren scheint.

Papierarchitekt: Eine Seite aus dem Band.
Papierarchitekt: Eine Seite aus dem Band.
© Eichborn

Einen weiteren Mosaikstein fügt Thomas von Steinaecker in der „Süddeutschen Zeitung“ zur Interpretation hinzu: Ihn erinnert die Handlung an die Romane von Paul Auster. Angesichts von Mazzucchellis Adaption von City of Glass ein naheliegender Vergleich. Als weitere literarische Parallele wäre Jeffrey Eugenides' Middlesex zu nennen. Nicht nur aufgrund der griechischen Wurzeln des Protagonisten, sondern auch wegen der formalen Struktur der beiden Werke.

Doch zieht von Steinaecker zwei andere Landsmänner als Vergleich heran: „Mit seiner sehr amerikanischen Mischung aus Wissen exponierender Penetranz und konzeptioneller Kühnheit ähnelt Asterios Polyp hier den Romanen Richard Powers' oder David Foster Wallaces, vor denen sich Mazzucchelli nicht zu verstecken braucht.“ Natürlich kratzt Mazzucchelli mit Asterios Polyp an der Fassade des realistischen Erzählens, doch ob er mit dem postmodernen Spiel der beiden genannten Autoren gleichziehen kann, bleibt fraglich.

Bilderflut und Freiraum

An diesem Punkt knüpft auch Setz' abschließende Frage an: „Darf der Comic-Romancier viel weniger behaupten als der gewöhnliche Romancier?“ Da kein Panel reines Füllmaterial ist, um von A nach B zu gelangen und sich der Comiczeichner gleichzeitig verpflichtet, alles bildlich darzustellen, ist diese Frage berechtigt. Kann der große Comicroman alle visuellen Bedürfnisse stillen und gleichzeitig genug Freiraum für Fantasie lassen? Diese Frage lässt sich nicht abschließend beantworten; sie muss der Kreativität des einzelnen Comickünstlers überlassen werden.

Mazzucchelli beantwortet diese Frage in Asterios Polyp wie folgt: Während Asterios seine Katharsis erlebt, weicht Mazzucchelli scheinbar von seinen meisterlichen Entwurf ab. Mit einer ganz alltäglichen Beschäftigung, dem Verarzten einer Blase, beginnt es: „Ich habe eine Blase am Fuß.“ Wo zuvor noch Wort-Bild-Ökonomie und perfektes Panel-Layout die Seite bestimmten, bricht ohne Vorankündigung eine Bilderflut über Asterios herein: Ganz allein auf einer weißen Seite sitzt er da und sinniert über seine Blase. Auf der gegenüberliegenden Seite schaut er hoch und befindet sich in seinem Zimmer in Apogee, alleine. Die nächste Doppelseite wiederholt das Spiel. Wir sehen dieselbe weiße Seite mit Asterios, nur wird seine Aussage auf der gegenüberliegenden Seite, diesmal von Hana beantwortet: „Das 'Wesen des Schuhs an sich'?“

Die Wiederholung weicht vom großen Plan ab und konfrontiert den Leser mit Asterios' Bewusstseinsstrom. Wahllose Erinnerungen prasseln auf ihn ein: Hana, wie sie isst, schläft, trinkt, sich an- und auszieht. Die fast wortlose Bilderflut überwältigt das strikte Muster des Papierarchitekten. Viele einzelne zusammenhanglose Panels fließen in drei Reihen vorbei. Einige enden unfertig am Seitenrand, andere zeigen ein zusammenhangloses Close up. Ganz ohne Kommentar erscheint noch ein letztes kleines Panel: Hana. Auf der darauffolgenden weißen Seiten sieht man wieder Asterios, wie er einsam seine Blase behandelt. Dieser scheinbare Verlust der Kontrolle über die Erzählung ist natürlich keiner. Auch wenn die Panels den Seitenrand überlappen, so bewegen sich die Bilder innerhalb der Konventionen des grafischen Erzählens, alles ist Teil vom Mazzucchellis großartigem Entwurf. So gelingt es dem Autor nicht nur mit der Form des Comicromans zu hinterfragen, er erzeugt auch einen unkommentierten grafischen Freiraum für den Leser, damit er seine Schlüsse ziehen kann.

David Mazzucchelli: Asterios Polyp, Eichborn, übersetzt von Thomas Pletzinger, 344 Seiten, 29,95 Euro

Zum Blog unseres Autors Daniel Wüllner geht es hier.  Und eine weitere Rezension von „Asterios Polyp“, die der Tagesspiegel anlässlich der US-Ausgabe des Buches veröffentlichte, finden Sie unter diesem Link.

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